Der Tote am Lido
schippte sie ebenfalls in die Tüte. Als sie damit fertig war, verknotete sie den Beutel, warf ihn in einen Mülleimer und setzte sich auf den einzigen Fleck auf der Bank, der frei war. Man hatte ihn absichtlich frei gelassen, denn dort hatte Marcos Handy gelegen und stundenlang geklingelt. Während Marco darunter lag. Tot. Umringt von einem Dutzend Polizisten, die auf dem Display des Handys die Worte »Mutter«, »Oma«, »Amanda« lasen, ohne sich darum zu kümmern. Sie wollten nicht antworten, oder konnten nicht, weil sie damit beschäftigt waren zu vertuschen, was an diesem Ort geschehen war.
Amanda legte den Kopf auf die Rückenlehne und schaute auf die Fassade des Mehrfamilienhauses, das auf der anderen Straßenseite stand. Drei Stockwerke, in jedem Stock elf Fenster. Fenster, daneben und darüber Fenster. Die meisten erleuchtet. Fenster, ausdenen Kinder und alte Leute, gelangweilte Familienväter und Rentner blickten und ihr Tun beobachteten. Immer waren Augenpaare auf sie gerichtet, wenn sie hier saß. Nur in jener Nacht wollte niemand etwas beobachtet oder gehört haben. Von einer Prügelei, die fünfundfünfzig Minuten gedauert hatte, länger als ein Profi-Boxkampf, begleitet von Polizeisirenen, Funksprüchen, quietschenden Reifen, Türenschlagen.
Amanda zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und spürte, wie sich das Brennen in ihren Bronchien mit dem Brennen in Nase und Augen vermischte. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, als ihr Handy klingelte. Es war Kaspar Lunau. Aber sie war nicht in der Stimmung, den Anruf entgegenzunehmen.
14
Lunau hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihm blieb, Joy zu finden. Er hatte keine Ahnung, wo er zuerst suchen sollte. Und er wusste nicht einmal, was er tun würde, wenn er sie gefunden hatte: Festhalten und Michael ausliefern?
Er brauchte unbedingt Hilfe, irgendeinen Anknüpfungspunkt. Die Polizei durfte er nicht kontaktieren, Amanda reagierte auf seine Anrufe nicht. Er würde nach Ferrara fahren und Joy am Straßenstrich suchen. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden? Oder Michael zu finden, den er nie gesehen hatte?Er wusste nicht einmal, ob hinter der Entführung tatsächlich Michael steckte.
Ehe er die fünfzig Minuten auf der Superstrada zubrachte, wollte er noch einmal die Lagerhalle überprüfen. Vielleicht fand er dort doch einen Hinweis auf Joy. Oder Joy selbst. Er parkte den Wagen in sicherer Entfernung und überquerte die Straße vor dem mit einem Stahlzaun umgebenen Areal. Der Hof lag im Dämmerlicht, das Tor war abgeschlossen. Die Berge aus Metallteilen und ausgeweideten Maschinen sahen aus wie eine verdorrte Landschaft. Vom Meer wehte eine kühle Brise her, aber Asphalt und Sand hatten so viel Hitze gespeichert, dass man die Wärme selbst durch die Jeans spüren konnte. Lunau arbeitete sich durch ein verwildertes Gelände Richtung Strand vor, bis er von einem Dünenkamm aus die beste Aussicht hatte. Er legte sich in den warmen Sand, peilte die Lagerhalle mit seinem Richtrohrmikro an und drehte den Pegel hoch. Kein Geräusch. Kein Licht, auch nicht in den Lüftungsluken unter der Dachrinne. Die einzigen Geräusche waren die Brandung, Möwenschreie und der Verkehr auf der Strandpromenade. Manchmal sirrte eine Stechmücke an Lunaus Ohren.
Er lief zurück zum Auto, und als er es startete, kam ein ramponierter, ehemals weißer Lieferwagen und hielt vor dem Tor. Ein junger Mann stieg aus, öffnete das Vorhängeschloss, schob das Tor auf und fuhr hinein.
Lunau sprang aus dem Panda, lief in einem weiten Bogen zurück auf seine Düne und presste sich in den Sand.
Im schwachen Schein einer Straßenlaterne waren mehrere Schwarze zu erkennen, die mit ihren Warensäcken aus dem Fond stiegen. Aus dem Führerhaus waren zwei Weiße gesprungen. Einer war Mitte vierzig, er hatte einen Bierbauch über zu dünnen Beinen. Der andere war jünger, schlank, eine Sonnenbrille auf dem kahlgeschorenen Schädel. Lunau meinte, ihn schon gesehen zu haben. Die beiden bildeten eine Art Schleuse, vor der die Schwarzen sich anstellten. Und dann fror die Szene ein. Irgendetwas schien nicht zu funktionieren. Der Mann mit dem ausladenden Bauch zischte etwas durch die Zähne. Daraufhin lief der erste Vu cumpra ’ einfach los, als wollte er die Schleuse ignorieren. Sie schnappten ihn sich, stießen ihn hin und her. Lunau setzte die Kopfhörer auf.
»Wir wollten nicht mit eurem Lieferwagen fahren«, sagte der Farbige.
»Ihr seid immer
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