Der Tote am Lido
allmählich die Geduld.
»Kannst du bitte einen Augenblick stehenbleiben und mit mir reden? Ich denke, die Sache ist wichtig genug.«
Sie hörte nicht auf ihn, sondern nahm einen Staublappen und wischte über leere Regalbretter.
»Silvia!«
Sie warf den Staublappen in das Spülbecken und riss die Türen eines Hängeschranks auf, in den sie Teller und Tassen räumte. Dann packte sie Zeitschriften und Bücher zusammen.
Lunau trat hinter sie und sagte: »Willst du den Urlaub abbrechen?«
Sie antwortete nicht, packte einfach weiter.
»Du hattest doch gesagt, die Kinder sollten endlich wieder einmal so etwas wie Normalität erleben.«
»Ach ja? Hatte ich das gesagt?«
»Ja.«
»Und du hast den Eindruck, dass sie hier Normalität erleben?«
Sie warf die Lebensmittel in eine Kiste und schüttete eine angebrochene Packung Tomatenpüree in den Ausguss.
»Lass uns aussagen, und dann wird Michael aus dem Verkehr gezogen.«
»Er wird aus dem Verkehr gezogen«, wiederholte sie verächtlich. »Du redest wie ein billiger Serienheld.«
»Er bekommt seine gerechte Strafe, wenn du das lieber hörst.«
»Glaubst du an gerechte Strafen? Glaubst du, dass Sara für irgendetwas bestraft werden musste?«
»Was hat das mit unserer Aussage zu tun? Wir müssen dafür sorgen, dass Michael in den Knast wandert. Er ist ein verrückter Gewalttäter, er hat sich das Hirn weggekokst.«
»Und mit so jemandem musst du dich anlegen?«
Lunau schloss die Augen und holte Luft. Er wusste, dass er bei diesem Thema nicht argumentieren konnte. Für Silvia stand fest, dass er an Saras Entführung Schuld war. Vermutlich hatte sie sogar recht. Er war Joy nachgelaufen, er hatte es nicht geschafft, das verwüstete Gesicht von Meseret aus seiner Vorstellungswelt zu tilgen. Oder sich zumindest davon zu überzeugen, dass dieses Gesicht ihn nichts anging.
»Wir sagen aus, und alles andere ist Sache der Justiz.«
Silvia schnaubte verächtlich. »Die Justiz. Kennst du die italienische Justiz? Hast du nicht gesehen, was mit Amandas Freund passiert ist?«
»Das hat mit unserem Fall nichts zu tun. Das waren Polizisten, die überreagiert haben. Wenn überhaupt stimmt, was Amanda und ihre Freunde meinen.«
»Überreagiert?«, wiederholte Silvia höhnisch. »Ich kann dir sagen, wie der Prozess ausgeht: Die Polizisten werden nicht bestraft werden. Und auch dieser Michael wird davonkommen.«
»Wenn wir nicht aussagen, bestimmt.«
»Du wirst keinen Ton sagen.«
Er nickte, gegen seine Überzeugung: »Okay. Bleibst du dann mit den Kindern hier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Urlaub ist vorbei.«
Er spürte ein Ziehen, das von schräg unten aus seiner Leiste in den Magen drang. Seine Arme lagen kalt und schwer auf dem Furnier, aber er wusste, dass er jetzt nicht einfach in einen katatonischen Zustand verfallen durfte. Das war ihm zu oft passiert. Auch mit Jette. Und jedes Mal war ihm das als Gefühllosigkeit ausgelegt worden, obwohl er doch von der Überfülle der Gefühle gelähmt wurde.
»Du ziehst mit den Kindern wieder in dein Haus? Und was wird aus mir?«
»Das kannst du selbst entscheiden. Die Wohnung hier ist noch für eine Woche gemietet.«
»Was soll ich mit der Wohnung? Es geht mir um euch. Wenn es keine Alternative gibt …« Er sah sie an, aberinzwischen kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass es diese Alternative nicht gab. Sie hatte entschieden. »Wenn es keine Alternative gibt, dann komme ich mit.«
»Nein.«
»Jetzt hör schon auf mit deiner Etikette. Wir sind seit vier Monaten zusammen. Ich werde doch eine Woche bei euch im Haus bleiben können. Wenn du willst, lasse ich mich nie auf der Straße blicken, ich gehe nicht einmal in den Garten. Ich mache mich unsichtbar.«
Silvia hatte den Ausguss geschrubbt und warf nun den Schwamm auf die Spüle. »Willst du es nicht begreifen? Es geht mir nicht um die Etikette. Es geht mir um dich. Merkst du denn nicht, was du den anderen Menschen zumutest?«
»Ich habe nachgegeben, ich werde Balboni nichts sagen. Es ist zwar irrsinnig, illegal und am Ende auch für euch das Gefährlichste, aber ich werde es tun. Wenn es für dich keine Alternative gibt, dann halte ich mich daran. Du bist die Mutter. Zufrieden?«
»Nein.«
»Soll das eine Art Prüfung für mich werden? Was willst du noch? Ich habe nicht die Polizei informiert, obwohl ich allein fast machtlos war. Ich habe Sara trotzdem gefunden.«
Silvia erstarrte und schaute ihn auf eine Art an, die er nicht zu deuten wusste. Dann
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