Der Tote am Lido
sie getreten. Sie drehte sich um und starrte in seine Augen, die sich an ihrem Körper festgeklammert hatten.
»Ich wollte nur den Hund rauslassen«, sagte der Alte und hob die Hand Richtung Badezimmer.
30
Lunau hatte sich darauf gefreut, Silvia wiederzusehen. Als sie sich an dem schmiedeeisernen Tor des Parco Massari trafen, leuchteten ihre türkisfarbenen Augenaus einem Geflecht feiner Falten, die sie reif und fraulich wirken ließen. Er musste sich beherrschen, dass er sie nicht an sich zog, und ihr Blick verriet, dass auch sie mit ihrer Entscheidung zu kämpfen hatte. Sie küssten einander auf die Wange und setzten sich schweigend in Bewegung, aber jede Minute, die sie zusammen waren, höhlte Silvias Widerstand aus.
Eine halbe Stunde später herrschte in Balbonis Büro eine eisige Atmosphäre. Michele Balboni, der Leiter der Abteilung Tötungsdelikte und Kapitalverbrechen, saß unter seinen Urkunden von Schießturnieren und dem Porträt des Staatspräsidenten und kaute auf seinen Backenzähnen. Silvia hatte die abgesprochene Version wiederholt, wonach Sara vom Strand verschwunden sei, sie erfolglos nach ihr gesucht hätten, bis sie in der Nacht von der Polizei zurückgebracht worden sei. Lunau war gezwungen gewesen, die absurde Geschichte zu paraphrasieren und damit Michael Duhula zu schützen. Einen Mann, der Mädchen zur Prostitution nötigte, der Meseret besinnungslos geprügelt, verstümmelt und ertränkt, der Sara entführt hatte, in der vagen Hoffnung, damit Joy wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein Mann, der schon als Jugendlicher gewalttätig gewesen war und dessen letzter Rest an Vernunft und Selbstbeherrschung sich in Kokainkristallen aufgelöst hatte.
Balboni schaute Lunau an. »Und wo haben Sie Ihr Veilchen her?«
»Ein Missgeschick. Nichts, was die Polizei beschäftigen müsste.«
»Ein Missgeschick, das Ihnen widerfahren ist, während Sie Sara Di Natale suchten?«
Lunau nickte.
Michele Balboni starrte eine Weile auf die Akten, auf das golden gerahmte Foto von seiner Familie und auf den Briefbeschwerer aus buntem Murano-Glas, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Silvia und Lunau zuckten zusammen, während der Knall gegen die Wände schwappte und der Ventilator einen Moment innezuhalten schien.
»Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen diesen Unsinn abkaufe«, bellte Balboni.
»Das wird nicht das erste Mal gewesen sein, dass ein Kind verschwunden und dann, ein wenig verwirrt und verängstigt, wieder aufgetaucht ist«, erwiderte Lunau ruhig.
»Sie wissen, dass bewusste Falschaussagen strafbar sind, noch dazu, wenn Sie damit ein Kapitalverbrechen decken und Ermittlungen behindern.«
»Läuft denn eine Ermittlung? Gegen wen?«
Balboni sprang auf, und Lunau sah, dass sein Hemd zu weit war, dass sein Hosenbund von einem zu langen Gürtel zusammengehalten wurde und groteske Falten warf.
»Jetzt hören Sie mir gut zu, Lunau. Sie glauben, weil wir einander kennen, haben Sie Narrenfreiheit. Sie spazieren in meinem Büro ein und aus, unterbreiten mir Ihre Ermittlungsergebnisse und Theorien, stecken Ihre Nase in meine Arbeit, und wenn Sie wirklich gefordert sind, lügen Sie mich an.«
Lunau wollte dagegenhalten, auch weil er spürte, dass Balbonis Worte Silvia noch mehr aufbrachten. Er öffnete den Mund, aber Balboni kam ihm zuvor: »Sie sind still. Das Mädchen hat im Auto mit den Kollegen gesprochen.«
»Sie dürfen einen Minderjährigen ohne Begleitung der Eltern oder eines Jugendschutzbeauftragten nicht vernehmen.« Lunau versuchte, nicht aus der Rolle zu fallen, die Silvia ihm zugedacht hatte. Aber er hasste Verstellungen, noch dazu, wenn sie so widersinnig waren.
»Es war keine Vernehmung. Das Mädchen war nicht zu bremsen. Es erzählte stolz von seinem Sprung aus einem Fenster, davon, wie es seine Spuren verwischt hatte, um dem Schwarzen Mann zu entgehen.«
»Der Schwarze Mann ist ein Topos in der Phantasiewelt der Kinder«, warf Lunau ein.
»Mund halten. Glauben Sie, ich habe die Verletzungen an ihren Handgelenken nicht bemerkt? Sie sagen jetzt die Wahrheit, und wir vergessen den Unsinn, den Sie mir verkaufen wollten, ohne juristisches Nachspiel. Das halte ich für ein großzügiges Angebot.«
Lunau saß steif da und betrachtete Silvia aus dem Augenwinkel. Der Ventilator ließ seinen Schirm pendeln und streichelte ihr gewelltes Haar. Das Haar, das Lunau bis vor wenigen Stunden ebenfalls anfassen durfte.
»Gut. Wie Sie wollen«, sagte Balboni.
Er druckte ihrer
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