Der Tote am Lido
dem Sofa und dachte nach. Immer wieder jagten die Geräusche und Bilder der letzten Nacht durch seinen Kopf. Er war so übermüdet, dass er sich nichtdagegen wehren konnte. Er hörte das Klatschen der Haut, das Ächzen, das heisere Röcheln. Er sah Michael vor sich, er sah sich selbst, wie er mit der erhobenen Stablampe ausholte, wie er die Spritze in Michaels Gewebe rammte.
Silvia hatte recht. Er musste aufhören mit diesem Wahnsinn. Was er sich wirklich wünschte, das fand sich hier in diesen vier Wänden. Das galt es zu beschützen. Aber würde Michael sich nicht rächen? Hätte Balboni ihn nicht sofort verhaften müssen?
Er nahm Silvia an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Sie folgte ihm nur widerwillig, als hätte sie noch etwas anderes im Sinn. Sie lagen nebeneinander und lauschten durch die offenen Türen nach den Kindern. Lunau spürte das Pochen in seiner Schläfe, und er spürte die Anspannung, die nicht weichen wollte von ihnen. Silvia schien immer wieder zu einer Frage anzusetzen, und als er nach ihrer Hand griff, reagierte sie nicht. Sie ließ es einfach geschehen. Er war sicher, dass sie vor Aufregung nicht würden schlafen können, aber Silvia hatte schon nach wenigen Augenblicken einen gleichmäßigen, tiefen Atem, und auch er schlief in der schwülen Spätsommerluft ein, während draußen die Sonne wieder aufging und den Sand schon am frühen Morgen zum Glühen brachte.
28
Lunau wurde um neun Uhr vom Duft des Espressos geweckt. Er stand auf und ging in die Küche, wo Silvia gerade die Kaffeekanne und Geschirr auf ein Tablett stellte. Er umschlang sie von hinten und drückte ihr einen Kuss auf den Nacken.
»Guten Morgen«, sagte er. »Gut geschlafen?«
Sie machte sich los und hantierte hektisch mit den Tellern.
»Wie machen wir das mit den Kindern?«, fragte Lunau. »Wir nehmen sie besser nicht mit aufs Kommissariat, oder?«
»Ich bringe sie zu meinem Bruder.«
Lunau ging mit dem Tablett Richtung Veranda. Die Wohnung sah hell und sauber aus. Keine Spielkarte, kein Kleidungsstück lag herum. Sein Blick fiel auf eine Reisetasche, die mitten im Wohnzimmer stand.
»Willst du sie länger bei deinem Bruder lassen? Wieso?«
Silvia reagierte nicht. Er setzte sich an den kleinen weißen Plastiktisch, verteilte das Geschirr und rührte sich einen Milchkaffee an.
»Kommst du nicht frühstücken?«
»Ich habe schon gefrühstückt.«
Lunau schüttete sich Müsli in eine Schale, nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich in dem harten Stuhl zurück. Silvias Flip-Flops wanderten hin und her, Schranktüren und Schubläden krachten.
»Was sollen wir Balboni genau sagen?«, fragte er.
»Nichts werden wir ihm sagen«, antwortete Silvia. Lunau legte den Löffel hin und beobachtete sie, wie sie auf einer unsichtbaren Schiene eilig hin- und herlief. Sie war noch im Schlafanzug, ihr Gesicht blass, die Haare verstrubbelt. Sie sah aus, als hätte sie gar nicht geschlafen.
»Seit wann bist du wach?«
Silvia reagierte nicht.
»Balboni ist nicht dumm. Er hat meine Verletzungen gesehen.«
»Denk dir eine Geschichte aus.«
»Was für eine Geschichte?«
Silvia zuckte mit den Achseln. »Eine Schlägerei in der Kneipe, einen Zusammenprall mit einem Laternenpfahl.«
»Bitte, Silvia. Wir machen uns lächerlich, und davon abgesehen, machen wir uns auch strafbar. Wir müssen diesen Michael anzeigen. Sonst läuft er weiter frei in der Gegend herum.«
Lunau bekam Angst bei dem Gedanken, dass Silvia alleine zur Schule fuhr, die Kinder irgendwo bei Verwandten waren. Er überlegte, wieviel er ihr erzählen sollte von der vergangenen Nacht.
Sie sah ihm in die Augen, kalt und kontrolliert. »Ich werde niemanden anzeigen.«
»Aber wieso? Er hat Sara entführt. Er hat Meseret umgebracht.«
»Das ist nicht meine Sache.«
»Silvia.«
Sie blieb abrupt stehen. Ihr bleiches Gesicht war verschwitzt,ihre Augen fahl, ihr Blick aber gleichzeitig aggressiv.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Willst du nicht, dass Michael bestraft wird für das, was er Sara und dir angetan hat?«
»Ich habe schon einmal diesen Fehler gemacht.«
»Welchen Fehler?«
»Auf Rache zu sinnen.«
Lunau wusste, worauf sie anspielte. »Erledige ihn«, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, als er hinter Vitos Mörder her war. Es war ihr ernst gewesen, und er hatte ernst gemacht.
»Ich habe diesem Zappaterra damals den Tod gewünscht. Und das ist jetzt die Strafe.«
»Wovon redest du?«
Sie fing wieder an, hin- und herzurennen. Lunau verlor
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