Der Tote am Lido
schüttelte sie den Kopf.
»Dass sie schlauer ist als wir alle zusammen, ist nur gut. Aber ich hatte diesen Michael kampfunfähig gemacht.«
»Glaubst du, dass mich das interessiert? Eure Hahnenkämpfe?Ich wollte nicht, dass du andere Leute niederknüppelst. Ich wollte Sara zurück.«
»Wäre sie nicht selbst geflohen, hätte ich sie dir heil wiedergebracht.«
»Heil? Heil, sagst du?« Ihre Stimme hatte sich überschlagen. »Ist dir nicht klar, wie es in dem Kind aussieht? Das wird nie mehr weggehen, nie, verstehst du? Und du bist schuld daran. Allein du. Ich habe einmal den Fehler gemacht, auf Vergeltung zu hoffen. Und dafür müssen wir nun büßen. Sara muss büßen.«
»Das stimmt doch nicht. Du verquickst Dinge, die nicht zusammengehören.«
»Ach ja? Woher weißt du das? Spürst du, was in mir vorgeht, was in Sara vorgeht?«
»Nein. Aber ich will, dass du vernünftig …«
»Lass mich zufrieden mit deiner Vernunft!« Silvia hatte gebrüllt, der Schall hing noch in den Wänden. Nun flüsterte sie: »Ich werde nie wieder eine solche Angst durchleben. Ich will eine normale Familie, verstehst du? Das mag unvernünftig, politisch falsch sein, eine feige Anpassung, es mag deinem Ideal zuwiderlaufen, mag sein. Aber es ist meine Familie, und mit der hast du nichts zu schaffen.«
Lunau war wie erstarrt. Er wusste nur, dass er jetzt nicht aufgeben durfte. Er sprang auf, lief auf Silvia zu und umarmte sie.
»Silvia. Du verstehst nicht, wie wichtig ihr mir seid. Es ist vorbei mit meinem Job. Von mir aus schreibe ich Börsennachrichten oder Rätselfragen für ein Fernsehquiz. Ihr seid mir wichtiger als alles andere.«
Sie ruderte mit den Armen, um sich aus seinem Griff zu befreien. »Lass mich«, schrie sie. »Das hast du mir vor einer Woche schon einmal gesagt. Du hast versucht, mich unter Druck zu setzen. Und ich hatte dich nur um eines gebeten: Um einen normalen, unbeschwerten Urlaub. Aber nicht einmal das hast du geschafft. Keine drei Tage lang. Du hast nicht einmal die Kinder von der Leiche ferngehalten.«
»Sie hatten sie vor mir entdeckt.«
»Und wo warst du?«
»Am Sonnenschirm. Während du in der Schule warst.«
Sie zuckte zusammen, aber Lunau verlor jetzt seine Hemmungen. Er hatte fast jeden Kompromiss akzeptiert, um mit Silvia zusammenzusein, und er war dabei, sein Berufsethos zu verraten. Wofür? Und wieso war ihr Beruf unantastbar, seiner dagegen verwerflich? »Ich verstehe unter einem normalen Urlaub auch etwas anderes, als die Kinder zu hüten, zu kochen, einzukaufen und darauf zu warten, dass du aus der Schule nach Hause kommst.«
Sie blickte ihn böse an. »Keine Angst, das verlangt keiner mehr von dir. Tut mir leid, wenn ich dich ausgebeutet habe.«
»Du verstehst mich falsch.«
In dem Augenblick hörte man nackte Füße auf den Steinfliesen. Sara stand zitternd im Wohnzimmer, mit aufgerissenen Augen, und fragte: »Warum schreit ihr so?«
»Entschuldige, mein Liebling«, sagte Silvia, beugtesich hinab und schlang die Arme um das Kind. »Entschuldige, entschuldige, Mamma ist immer noch ein bisschen aufgeregt wegen letzter Nacht. Es ist nichts. Es ist alles in Ordnung.«
Silvia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bereitete das Frühstück für die Kinder. Lunau bereute seine letzte Bemerkung, aber er konnte diese Reue nicht zeigen. Silvia ging ihm aus dem Weg. Sie ließ ihn weder das Geschirr spülen noch mit den Kindern an den Strand gehen. Lunau dachte wieder daran, wie sie ihm ins Ohr geflüstert hatte: »Erledige ihn«, er dachte an Jette, die einfach das Wohnungsschloss ausgewechselt hatte, nachdem er, vorübergehend, wie er glaubte, in die stille Remise gezogen war, um seine Hörprobleme in den Griff zu kriegen. Er hatte versucht, wieder ein normaler, belastbarer Mensch und Familienvater zu werden, aber Jette hatte entschieden, dass er als Familienvater ausgedient hatte.
Zwei Stunden später hatte Silvia das Auto beladen und sagte zu Mirko und Sara, sie sollten sich verabschieden. Lunau öffnete das Rolltor der Ferienanlage, und dann fuhr der weiße Panda an ihm vorbei, während seine Rippen, seine Leber und sein Herz stachen und Sara ihn aus großen Augen fragend ansah.
TEIL III
29
Amanda brachte die Styroporbox in die Küche, wo es genauso roch wie in dem kleinen Lieferwagen, aus dem sie gerade ausgestiegen war: nach Suppennudeln und überzuckertem Apfelbrei.
Sie öffnete den Deckel und spürte den Blick des Alten in ihrem Rücken, an ihrem Po und am Haken des BHs.
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