Der Tote am Lido
wie tickende Uhren und pfeifende Bremsscheiben, die nicht da waren, dann kamen Satzfetzen dazu, die streitenden Stimmen seiner Kinder, der eigene Ehekrach und der fremder. Schließlich hatte er Dialoge, Musikstücke, Drohungen gehört. Man hatte Computertomographien und MRTs erstellt und eine ungewöhnliche Aktivitätdes vorderen Hirnlappens festgestellt. Die Ursache war angeblich Stress, Überreizung seines Gehörs. Der ständige Wechsel zwischen Tonstudio und Familienleben hatte seinen auditiven Kortex überfordert. Um für Erholung zu sorgen, hatte er sich isoliert, auch von der Familie, und er hatte die Familie schließlich verloren. Jette, Stefan und Paul.
Er zog sich an der Wagentür hoch, lehnte sich gegen das Blech und wartete, bis in seinem Kopf wieder Stille einkehrte. Er sah hoch in den dritten Stock. Bei Michael brannte kein Licht mehr. Lunau schloss den Wagen ab und überquerte den Grünstreifen. Die Haustür war nur angelehnt, weil ein Stein im Rahmen lag. Er ging die drei Stockwerke hoch, wartete, bis die Zeitschaltuhr das Licht abgestellt hatte, dann holte er seinen Plastikstreifen aus der Jacke. Er öffnete Michaels Wohnungstür und lauschte. Sein Gehör funktionierte wieder tadellos: Im Aquarium blubberte das Wasser, der Kühlschrank brummte, hin und wieder knackte das Gehäuse der Klimaanlage. Lunau musste sich beeilen, ehe der nächste Anfall kam. Er ging in die Küche und legte den Schalter der Hauptsicherung um. Nun schwiegen auch Aquarium und Kühlschrank. Die Digitaluhr am Mikrowellenherd erlosch.
Durch die Fenster fiel ein fahles Mondlicht herein, in dem sich die glänzenden Oberflächen des Tisches und der Spüle abzeichneten.
Lunau holte das Klebeband aus der Tasche und wickelte das Ende ab. Er spürte, wie sein Herz das Blut durch den Hals bis in die Schläfen pumpte. Ihm warklar, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten. Lunau war überzeugt gewesen, dass die Welt nur dann gerechter werden konnte, wenn alle sich an dieselben Regeln hielten. Aber Michael war der Beweis, dass diese Regeln niemals funktionieren würden. Lunau konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Angst gehabt zu haben. Nicht einmal auf dem Lastkahn, als man ihn gefesselt und mit einem Gewicht beschwert hatte, um ihn über Bord zu werfen. Damals war ihm alles klar und kalt wie in einem Film erschienen. Nun lief kein Film.
Lunau setzte einen Fuß vor den anderen. Auf den massiven Granitplatten war kein Geräusch zu hören. Er ging durch den Korridor und kam an die Schlafzimmertür. Sie war geschlossen, gedämpft hörte man Michaels Atem, der kratzend durch die Kehle stieg und einen hohen, kindlichen Pfeifton erzeugte. Lunau drückte langsam die Klinke und betrat das Zimmer. Michael lag, nur mit einem weißen Slip bekleidet, die Arme weit von sich gestreckt, auf dem Doppelbett. Er hatte keine Alpträume. Lunau zog noch ein paar Zentimeter Klebeband von der Rolle, es gab ein ratschendes Geräusch, aber Michael regte sich nicht. Mit einem Ruck riss Lunau einen halben Meter Band von der Rolle und fuhr um Michaels rechtes Handgelenk, das er an das Metallgestell fesselte. Er sprang ihm mit den Knien in den Rücken und blockierte den linken Arm. Michael bäumte sich auf wie ein Rochen, aber er konnte Lunau nicht abwerfen. Dieser nahm Michaels linken Arm in die Beinschere, wickelte noch einen halbenMeter Klebeband ab und fesselte auch die andere Hand an das Bettgestell. Michael konnte nur noch mit den Unterschenkeln ausschlagen, aber Lunau war schon wieder auf den Beinen. Er ging in die Küche zurück und legte den Hebel der Sicherung um. Am Mikrowellenherd blinkte die Uhr: 00:00.
Michael kämpfte lautlos und verbissen, aber das Paketklebeband war dreifach um seine Gelenke gewickelt. Es hätte auch ein Nashorn gehalten. Lunau kehrte zu ihm zurück und schaltete das Licht im Schlafzimmer an. Michael sah sich nach seinem Handy um. Es lag auf einer Kommode. Lunau kippte das Fenster und warf das Telefon durch den Schlitz nach draußen.
»Das werden Sie bereuen«, sagte Michael.
Lunau schüttelte den Kopf. »Du wirst mir zwei Fragen beantworten. Und dann lasse ich dich weiterschlafen. Aber versuch nicht, mich zu verarschen.«
»Sie sind ein toter Mann.«
»Ich weiß.«
Michael warf seinen Leib hin und her, versuchte sich loszureißen und ging in die Kerze, aber das Paketklebeband war stärker als er.
Lunau nahm die Spritze aus der Tasche und klopfte mit dem Fingernagel gegen den Kolben, um die Luftbläschen
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