Der Tote am Lido
ihn nicht in U-Haft behalten können. Er hat sich mit dem besten Anwalt der Stadt angekündigt.«
»Was hat das mit dem Anwalt zu tun? Sie haben einen Mörder, Entführer, Zuhälter. Was muss man eigentlich noch tun, um in Italien ins Gefängnis zu wandern?« Lunau war laut geworden.
»Was soll das werden? Eine Belehrung durch die Musterknaben der Europäischen Union? Wenn Sie mir nicht so einen Mist erzählt hätten, dann hätten wir in der Boxhalle verwertbare Spuren gefunden, bevor Michaels Freunde dort einen Hausputz veranstalteten.«
»Glauben Sie, ich hätte mir das alles eingebildet? Ichhätte Saras Verlies dort nicht gefunden? Ich bin gegen eine Wand gerannt?«
»Michael Duhula hat einen Zeugen beigebracht, der mit ihm in jener Nacht spazieren gefahren sein will.«
»Und Sie glauben ihm?«
»Ich glaube ihm nicht. Das Problem bin nicht ich, sondern der Haftrichter, der sich auf Beweise und Aussagen stützen muss. Und Ihrer Aussage stehen zwei entgegen.«
»Und der Mord an Meseret?«
»Michael kommt dafür nicht in Frage.«
»Wieso?«
»Er war die letzte Augustwoche in Nigeria.«
»Auf einmal?«
»Ja, wir haben nach seiner Aussage die Transportlisten der Fluggesellschaften überprüft. Er war definitiv im Ausland.«
»Was für ein Zufall. Dann hat er jemand anderen mit dem Mord beauftragt. Ist doch offensichtlich.«
»Für Sie. Nicht für die Justiz. Ihre Joy hat übrigens auch keine Strafanzeige wegen Zuhälterei gegen Michael gestellt. Wir haben nichts in der Hand. Dieser Anwalt wird uns in der Luft zerreißen. Er ist ein Star, er kommt aus einer der angesehensten Familien der Stadt.«
»Wie kann sich Michael Duhula überhaupt so jemanden leisten? Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«
»Reichtum ist in unserem Land kein Delikt. In Ihrem übrigens auch nicht.«
Lunau legte auf, orientierungslos, hilflos. Er fühlte sich umzingelt von übermächtigen Gegnern. De Santis, Gianella und vor allem Michael, der sich in seiner unkontrollierbaren Aggressivität bestätigt fühlen konnte. Lunau musste ihm zuvorkommen.
Er fuhr an den Stadtrand, vor die große Haftanstalt, die als flacher grauer Kasten, umgeben von einer stacheldrahtbewehrten Betonmauer, vor Obstplantagen und Maisfeldern lag.
Drei Stunden später kam ein Streifenwagen durch das Tor. Vorne zwei Polizisten, hinten Michael Duhula. Lunau folgte. Das Auto brachte Michael nach Hause in die Via Modena, die Beamten nahmen den Schwarzen in die Mitte und eskortierten ihn in seine Wohnung. Nach zehn Minuten verließen die Beamten das Gebäude wieder und fuhren davon.
Lunau musste Silvia und die Kinder schützen. Dazu musste er Michael überwachen oder noch besser: wieder hinter Gitter bringen. Dazu reichte ein Drogendelikt oder auch nur ein Verstoß gegen die Auflagen des Hausarrestes. Michael Duhula musste in seiner Wohnung bleiben, jeglicher Kontakt zur Außenwelt war ihm untersagt.
Aber bis zum Abend tat sich nichts in Michaels Wohnung. Weder kamen seine schwarzen Freunde, noch verließ er das Haus. Als es dämmerte, zuckte das blaue Licht eines hart geschnittenen Films über die Wände. Lunau wartete, las noch einmal das Dossier zu Michael, recherchierte zur Muschelzucht in Goro und spürte, wie sich die Gedanken und Geräusche in seinemGehirn überlagerten. Er dachte immer wieder an Sara, die auf ihrem Sofa saß, herausgefallen aus Raum und Zeit. Herausgefallen aus dem Leben. Er dachte an Silvia, die stumm und hilflos zusah und darüber Mirko vergaß. Lunau dachte an die letzte Nacht zurück. An Amanda, die sich an ihn geschmiegt hatte, zitternd. Er war hart geblieben, aber er wusste nicht, wie oft er diese Energie noch aufbringen würde. Was wollte Amanda von ihm? Vergebung? Verklärte sie ihn immer noch als eine Lichtgestalt des unabhängigen Journalismus?
Neben Lunau hielt ein Scooter mit laufendem Motor, die Drehzahl schoss immer wieder in die Höhe, obwohl der Fahrer nicht am Gas spielte. Lunau bekam Angst. Er wusste, dass die meisten Auftragsmorde der Camorra von Zweirädern aus verübt wurden. Dann schrillte eine Glocke, ein Jaulen wie von einem Feuerwerkskörper. Der Scooter schoss davon, aber der Lärm in seinem Kopf ging weiter, überlagerte sich mit den nächtlichen Schreien von Sara und Silvias gellender Stimme. Lunau bekam keine Luft mehr. Sein Herz raste, ein Anfall.
Eineinhalb Jahre lang hatte er unter akustischen Halluzinationen gelitten. Zuerst waren es nur einzelne Frequenzen gewesen, die er hörte, Geräusche
Weitere Kostenlose Bücher