Der Tote am Lido
Spritze heraus und steckte sie, gemeinsam mit dem Zucker, in die Tasche. »Was hatte De Santis davon?«
Lunau fasste ihn an den Schultern, aber Michael reagierte nicht mehr.
Lunau verließ den Raum, zog die Wohnungstür ins Schloss und ging die Treppe hinab. Als er in seinem Auto saß, versuchte er, den Zündschlüssel ins Schloss zu schieben, aber er zitterte so stark, dass er beide Hände nehmen musste. Er ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken, wurde von Krämpfen geschüttelt und fing an zu weinen.
Als er den Kopf hob, sah er die Glut einer Zigarettein einem Auto. Ein roter Alfa Romeo. Seit wann wurde Michael beschattet? Oder wurde er selbst beschattet?
TEIL IV
45
Diego Gianella saß zu Hause an seinem Esszimmertisch und starrte vor sich hin. Seine Frau hatte mehrmals von der Küchenzeile herübergesehen, eine Frage auf den Lippen. Sie hatte sich ihre Fragen verkniffen und war bedrückt ins Schlafzimmer gegangen. Sie legte sich ins Bett und schloss die Augen. Sie hatte sich jahrelang gesorgt, wenn ihr Mann hinausgefahren war, inzwischen hatte sie gelernt, auch mit Sorgen einzuschlafen.
Nach eineinhalb Stunden stand Diego Gianellas Entscheidung fest. Er war es Meseret schuldig. Er nahm die Autoschlüssel und fuhr mit dem Uno Richtung Hafen. Er dachte an Meserets in diagonale Lachfalten gezogenes Gesicht, das sich plötzlich verschlossen hatte. Er dachte an den Streit, den sie auf der Straße gehabt hatten, weil Meseret auf einmal von der Venusmuschel nichts mehr wissen wollte. Monatelang hatte er für drei gearbeitet, hatte einen Mann wie De Santis getäuscht und sein Leben riskiert, um diesem Leben eine sinnvolle Wendung zu geben, um ein legaler Muschelzüchter zu werden. Und dann war plötzlich Schluss gewesen. Warum?
Weil er wusste, dass es diese Wendung nicht gebenkonnte? Dass der Einsatz nicht lohnte, dass alles anders werden würde? Schon vor Gianella? Aber woher?
Gianella parkte an der Schutzmauer am Hafen, ging den Steg entlang, kontrollierte, dass ihn niemand beobachtete, dann stieg er an Bord seines großen Holzkutters, zog die Plane vom Verdeck und startete den Dieselmotor. Er sprang nur widerwillig an. Zu lange hatte er auf diesen Moment warten müssen.
Gianella wischte mit dem Ärmel seines Ölzeugs über die Augen, als könnte er damit die Angst loswerden. Die Küstenwache hatte verboten, nachts auszulaufen. Aber es war nicht die Küstenwache, vor der Gianella in dieser Nacht Angst hatte.
Ich bin es Meseret schuldig, sagte er sich immer wieder vor, aber ich bin es vor allem mir selbst schuldig.
Er lief aus, nahm Kurs auf die Lagune, auf die Muschelzuchten und leckte sich die salzige Gischt von den Lippen. Schwarz und feucht ragten die Holzpfähle aus dem Brackwasser. Das Mondlicht glitzerte, Nebelschwaden trieben über das finstere Wasser.
Unter diesem Wasser lag der Reichtum Goros. Ein Reichtum, den er, Gianella, in das Dorf gebracht hatte. Und nun wollte das Dorf ihn nicht mehr. Er dachte an seine Studienjahre zurück, an die halligen Säle der Universitäten, auf deren Deckenfresken man einen künstlichen Himmel gemalt hatte, in denen er sich fremd und verloren gefühlt hatte in seinen groben Cordhosen und den von seiner Mutter gebügelten Hemden. Er war auf seinen O-Beinen durch Flure gelaufen, in denen sich junge Leute in verrissenen Jeans und bemaltenT-Shirts in den Armen lagen, die lachten und rauchten und für die das Studium wie eine launige Zerstreuung wirkte. Sie trafen sich in Kneipen und Wohnungen, tranken und konsumierten Marihuana, hatten angeblich in immer neuen Paarungen Sex miteinander, während er allein über den Büchern brütete. Sein Vater hatte auf einen motorisierten Kutter verzichtet, damit Diego Gianella studieren konnte. Damit er etwas Besseres werden konnte. Und so tat auch er alles dafür, obwohl er nichts Besseres werden wollte. Er lag nachts in seinem Wohnheimbett und sehnte sich nach dem Rauschen des Windes und dem Schaukeln der Wellen. Er hasste das Studium, aber er gab sich nicht geschlagen, doch als er die Weichtiere in der Zoologie entdeckte, änderte sich alles. Sein Studium brachte ihn wieder auf See. Sein Studium wurde erträglich, und als er seine Entdeckung machte, wurde es zur Passion. Er verschlang die neuesten Publikationen, besuchte heimlich Kongresse und machte Schulden, um Muschelsaat zu kaufen. Seine Entdeckung hieß Tapes philippinarum . Man experimentierte mit dieser aus Japan stammenden Muschelsorte an den amerikanischen, englischen und
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