Der Tote am Lido
er dachte an die Pistole, die der andere im Gürtel stecken hatte. Er durfte sie nicht benutzen. Hoffte Lunau. Er stieg ein, startete den Motor und ließ den Leihwagen langsam anrollen. Das rote Auto wendete mit quietschenden Reifen und schoss davon.
47
Lunau fuhr wie in Trance über die Superstrada Richtung Meer. Mal fuhr er siebzig, dann hundertsechzig, den Blick immer auf den Rückspiegel gerichtet, um zu kontrollieren, ob er verfolgt wurde. Es war halb vier, die Superstrada verlassen, er konnte keine Scheinwerfer entdecken, aber das beruhigte ihn nicht. Er hatte etwas in Gang gesetzt, was er nicht mehr kontrollieren konnte. Mit der Attacke gegen Ciro De Santis, mit dem Überfall auf Michael. Auch wenn in der Spritze nur Kochsalzlösung gewesen war.
Er stellte den Wagen im Innenhof ab, lauschte eine Weile in die Nacht, hörte die Brandung und das Kreischen einer Möwe, dann stieg er aus und öffnete die Wohnungstür. Es roch nach Obas Sachen, ein Gemisch aus Gewürzen und Meertang, außerdem dieses Putzmittel, Chlor … Und dann war da noch dieser andere Geruch, der Lunau einen Schauer über den Rücken jagte. Das frische, sommerliche Parfüm, das Amanda benutzte. Er dachte an Silvia. Er wollte sich nicht vorstellen, dass es vorbei war. Wenn es Sara besser geht, wird sich ihr Groll verflüchtigen, dachte er. Aber würde es Sara jemals besser gehen? Er schämte sich dafür, dass er zuerst an sein eigenes Interesse gedacht hatte.
Er betrat die Wohnung, schloss die Tür zweimal ab, schlüpfte aus seinen Kleidern und ließ sich auf das Doppelbett fallen. Die Matratze, auf der Silvia gelegen hatte, war leer, abgezogen. Langsam traten in der Dunkelheit die Streifen darauf hervor. Lunaus Magenkrampfte sich zusammen. Immer wieder sah er Silvias hasserfülltes Gesicht, Saras leeren Blick, dann Michaels blutunterlaufene Augen, in denen Panik zu erkennen war. Das Gesicht eines Verrückten. Oder doch nicht?
Lunau dachte an Totò De Santis. Der Mann, der die Vu cumpra ’ , den Handel mit gefälschten Markenartikeln, mit illegal gefischten Muscheln und wahrscheinlich auch mit Drogen kontrollierte. Wie konnte er so viel Macht in seinen Händen konzentrieren? Hatte er so außergewöhnliche Fähigkeiten?
Lunau glaubte, nackte Füße auf den Fliesen gehört zu haben. Schritte, die näher kamen. Er hielt den Atem an. Die Tür ging auf.
»Kaspar?«, flüsterte Amanda.
»Was willst du?«
Amanda brauchte eine Weile, ehe sie fragte: »Darf ich zu dir kommen?«
»Wozu?«
»Ich brauche jemanden.«
Lunau schwieg. Er hätte selbst jemanden gebraucht. Er brauchte Silvia, er brauchte seine Kinder, die in Berlin in ihren Betten lagen, er brauchte Sara, die für niemanden mehr erreichbar war. Er brauchte ein anderes Leben. Amandas schlanker Körper stand im Schummerlicht und duftete verlockend. Aber er sagte sich, dass dieses Mädchen nur seinen Körper anzog. Er sagte es sich so oft vor, dass es falsch klang. Er wollte die Leere nicht mit Sex füllen. Nicht mit einem Mädchen, dessen Absichten ihm ebenso wenig klar waren wie die eigenen.
Amanda streckte sich neben ihm aus, und er versuchte,Abstand zu halten, was auf der schmalen Matratze nicht einfach war. Er stellte sich vor, wie Amanda ebenfalls entbinden, sich vom Mädchen in eine unerbittliche Mutter verwandeln würde.
»Was ist?«, fragte sie und drehte sich zu ihm. »Warum bist du so steif?« Er antwortete wieder nicht. Noch war sie ein Mädchen. Er spürte, wie sich etwas in ihm regte. Er sog den Duft ihrer Haut ein, er spürte die sanften Rippenbögen, die sich im Rhythmus einer erregten Atmung hoben und senkten, und er spürte, wie das Verlangen in ihm hochstieg. »Warum hat Michael nicht dich beschattet?«, fragte er.
»Was?«, rief Amanda. »Ist das jetzt dein Ernst?«
»Warum hat er Sara entführt? Warum hat er nicht versucht, über dich an Joy heranzukommen?«
»Das hast du mich gestern schon gefragt.«
»Aber du hast mir keine Antwort gegeben.«
»Weil ich keine habe.«
Amanda hatte sich aufgesetzt. »Weißt du, was ich glaube?«
Er schwieg.
»Ich glaube, du hast Angst vor mir. Du hast Angst, ich könnte dir gefallen, und deshalb redest du dir immer wieder ein, du könntest mir nicht trauen. Du hast Angst vor deinen Gefühlen.«
»Wer hätte keine Angst davor, sich in ein zwanzig Jahre jüngeres Mädchen zu verlieben, in ein Mädchen, das einen nach ein paar Monaten hocken lässt, weil es keine Lust hat, einen alten Mann mit Katheter durch die Gassen zu
Weitere Kostenlose Bücher