Der Tote am Steinkreuz
Schnell!«
Eadulf hatte offensichtlich Fieber und war sich seiner Umgebung nicht mehr bewußt.
Fidelma stand auf, eilte in den Hauptraum und holte einen Krug Wasser und ein Handtuch, feuchtete es an und begann, Eadulf den Schweiß von seinem geröteten Gesicht zu wischen.
Kurz darauf erschien Gadra, gefolgt von Grella. Sanft zog er Fidelma zur Seite. Er betastete Eadulfs Stirn, fühlte seinen Puls und trat zurück.
»Im Moment können wir wenig tun. Er hat hohes Fieber, das er entweder besiegt oder dem er erliegt.«
Fidelma spürte, wie sich ihre Hände verkrampften.
»Können wir ihm nicht helfen?«
»Das Gift tut jetzt seine Wirkung. Wir können nur hoffen, daß er soviel davon losgeworden ist, daß der kleine Rest nicht mehr tödlich ist und ihn nur noch ein paar Stunden plagen wird. Seine Körpertemperatur steigt. Wenn sie wieder fällt, haben wir gewonnen. Wenn nicht …«
Er zuckte beredt mit den Schultern.
»Wann werden wir es wissen?«
»Erst in ein paar Stunden. Jetzt können wir nichts tun.«
Fidelma fühlte eine törichte Wut in sich aufsteigen, als sie in Eadulfs gelbliches, eingefallenes Gesicht blickte. Sie erkannte, wie trostlos ihr Leben ohne ihn sein würde. Sie erinnerte sich, wie unruhig sie gewesen war, nachdem sie Eadulf in Rom verlassen hatte, um in ihre Heimat zurückzukehren, und wie leer die Monate danach waren. Sie hatte sich in Irland seltsam allein gefühlt, und Heimweh nach Rom hatte sie ergriffen. Es hatte lange gedauert, bis das vorbei war.
Es fiel Fidelma schwer, sich einzugestehen, wie gern sie Eadulf hatte. Mit siebzehn hatte sie sich in einen jungen Krieger namens Cian verliebt, der zur Leibgarde des Großkönigs in Tara gehörte. Damals hatte sie bei dem großen Brehon Morann Rechtskunde studiert. Sie war jung und sorglos und sehr verliebt gewesen. Aber Cian hatte sie später wegen einer anderen verlassen. Anfangs war sie darüber verbittert, ganz verwunden hatte sie es nie.
Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohl fühlte und mit dem sie reden konnte. In der ersten Zeit hatte sie ihn zu Streitgesprächen geradezu herausgefordert, und diese Streitgespräche bildeten die Grundlage ihres freundschaftlichen, unbeschwerten Verhältnisses, denn so heftig ihre verschiedenen Ansichten über Theologie und Kultur auch aufeinanderprallten, sie neckten sich eher auf diese Art, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen.
Wie sehr hatte Fidelma sich gefreut, als sie erfuhr, daß der neuernannte Erzbischof von Canterbury, Theodore, der Vertreter des heiligen Vaters in den angelsächsischen Königreichen, Eadulf als Abgesandten an den Hof ihres Bruders Colgú von Cashel geschickt hatte. Das war eine Fügung des Schicksals.
Konnte das Schicksal nun so grausam sein und ihr Eadulf nehmen, endgültig und unwiderruflich?
»Jetzt können wir nichts tun, Fidelma«, wiederholte Gadra. »Ich bleibe bei dem armen Bruder, und du versuchst herauszufinden, wer euch vergiften wollte. Ich gebe dir Bescheid, sobald irgendeine Veränderung eintritt.«
Fidelma betrachtete das leidende Gesicht ihres Freundes und nickte zögernd. Sie versuchte das leichte Zucken ihrer Mundwinkel zu unterdrücken.
»Ich danke dir, Gadra«, sagte sie. »Grella wird dir helfen, nicht wahr, Grella?«
Das Mädchen rang die Hände. »Ach, Schwester, werde ich dafür bestraft?«
»Wofür solltest du bestraft werden?« fragte sie zerstreut.
»Daß ich es war, die dir und dem Bruder das Essen gebracht hat«, erinnerte sie Grella.
Fidelma begriff, in welcher Angst das Mädchen lebte, und schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf.
»Du wirst nicht bestraft. Aber ich muß Dignait finden und feststellen, wer dafür verantwortlich ist, daß die giftigen Pilze auf die Teller kamen. Gadra wird hier deine Hilfe brauchen. Wirst du ihm helfen?«
»Natürlich«, antwortete das Mädchen traurig.
Fidelma warf noch einen Blick auf Eadulfs fiebergeschüttelte, bewußtlose Gestalt und verließ das Gästehaus. Draußen merkte sie, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben ziellos umherlief. Unentschlossen blieb sie stehen.
K APITEL 17
Vor der Holzhütte stieg Fidelma vom Pferd. Sie hatte den rath in unbestimmter Absicht verlassen. Bei Nennung des Namens Crítán war ihr eine Zeile aus Vergils »Äneis« eingefallen: Dux femina facti! – Eine Frau führte zur Tat! Sie wußte nicht, weshalb sie immer wieder an diese Worte denken mußte, als sie den Weg zum Tal des
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