Der Tote in der Wäschetruhe
zum Fenster hinaus, bläst die Wangen auf, verdreht die Augen und tut, als gehe ihn das alles nichts an.
Gutachter der Medizinischen Akademie Dresden und von der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität Berlin halten beide Motivvarianten prinzipiell für möglich. Zu einer eindeutigen Aussage kommen sie nicht.
Klarer ist das Bild, das sich für sie von Jörg ergibt.
Er wächst in einer Familie auf, die nach außen hin intakt erscheint. Mutter und Vater sind im Gaststättengewerbe eingespannt, die ältere Schwester wohnt noch im Haus, ist aber mit einem Freund liiert. Der intelligente Junge muss schon früh selbständig sein und das in einem Maß, dem er nicht gewachsen ist. In den ersten sieben Schuljahren sind seine Leistungen gut, doch mit dem Beginn der Pubertät ist ein deutlicher Leistungsabfall verbunden. Naturwissenschaftliche Fächer und Sport interessieren ihn, darin entwickelt er Ehrgeiz. Alles andere ist dem Jungen zu langweilig. Vor allem Mathematik und Russisch öden ihn an. Das Lernen fällt ihm nicht schwer. Dennoch gibt er sich mit Dreien und Vieren zufrieden. Die Kopfrioten in Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung sowie im Gesamtverhalten sind eine Offenbarung. Die Lehrer in der Schule kommen kaum noch mit dem Jungen zurecht, der ständig den Unterricht stört. Er kommt oft zu spät, an manchen Tagen erscheint er gar nicht in der Schule. 1977 nimmt ihn die Schulleitung in die von ihr geführte Kartei der Erziehungsgefährdeten auf. Von Lehrern oder Mitschülern lässt sich Jörg kaum etwas sagen. Er empfindet deren Ermahnungen als »herumkommandieren«.
Die Mutter ist nachsichtig, der Vater kümmert sich selten um die Erziehung, und wenn doch, dann mit Gebrüll und Prügel. Jörg bekommt dennoch fast jeden Wunsch erfüllt. Er besitzt ein Moped, ohne dass er sich dafür anstrengen muss. Zum Wochenende, wenn er zum »Bums« mit Freunden auf die Dörfer zieht, steckt ihm die Mutter immer zehn Mark zu. 40 bis 50 Mark kommen im Monat zusammen. Das ist in dieser Zeit eine Menge Geld für einen 15-Jährigen. Davon kauft sich der Junge Zigaretten. Den Rest setzt er in Bier und Schnaps um. Seine Vorzugsmarke ist 20-prozentiger Pfefferminzlikör. Erstmals hat er mit 14 Jahren bei der Jugendweihefeier Alkohol getrunken, dann wird dieser sein regelmäßiger Begleiter. 20 Glas Bier und acht doppelte »Pfeffis« sind ein Quantum, das ihn nicht betrunken macht, geschweige denn zum Filmriss führt. Wenn er nicht beim Handball- oder Fußballtraining ist, drückt sich Jörg in Kneipen herum, spielt mit jungen Männern Skat, die teilweise bis zu drei Jahre älter sind als er, und trinkt immer öfter Bier. An den Wochenenden macht er regelmäßig »einen drauf«. Dass es dabei Mitternacht oder noch später wird, ist für ihn inzwischen normal. Auch die Gaststättenbetreiber stören sich trotz Jugendschutzgesetz nicht daran.
Den Eltern fällt das Abgleiten des Sohnes nicht auf, und wenn doch, bleibt es bei Ermahnungen wie »Trink nicht so viel!« oder: »Räum dein Zimmer auf!« oder: »Lern endlich für die Schule!« Die »Ratschläge« gehen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Im Fernsehen interessieren den Jungen vor allem Abenteuer-, Kriminal- und Horrorfilme, vornehmlich solche, in denen Panik ausbricht. Spannend empfindet er Filme, in denen Menschen gequält und getötet werden. »Das fetzt«, gibt er zu. »Ich selbst möchte so etwas nicht machen, aber es ist gute Unterhaltung«, sagt Jörg dem Gerichtspsychologen in Dresden. Kommen solche Filme spät am Abend, ist das kein Problem. Statt den Sohn ins Bett zu jagen, schauen sich die Eltern gemeinsam mit ihm die Streifen an.
Alles in allem ergibt sich, dass Jörg ein egozentrischer Jugendlicher ist, der auf der einen Seite sehr kontaktfreudig ist und auch zu Mädchen schnell einen Draht findet. Eine wirkliche Liebesbeziehung aber hat er noch nicht erlebt. Liebe reduziert sich bei ihm auf sexuelle Befriedigung. Katja ist ihm dafür gut genug. Vor allem Jüngeren gegenüber will er seinen Willen durchsetzen und reagiert aggressiv, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen geht. Erschreckend ist die emotionale Kälte des Jugendlichen. Reue oder Erschütterung über das, was er in der Nacht zum 3. September 1978 getan hat, ist ihm zu keiner Zeit anzumerken. Auf eine entsprechende Frage des Psychologen antwortet er: »Da mach ich mir doch jetzt keine Gedanken mehr. Das nützt doch nichts. Ich habe das nun mal gemacht, und die Eltern von ihr, die
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