Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
Vom Netzwerk:
nicht den Eindruck, als wolle sie sich in absehbarer Zeit wieder einholen. Außerdem hatte sie nicht die Absicht, irgendwem zu erzählen, was mit ihrem Leben passiert war.
    Damals pfuschte ich noch an meiner Ehe herum und wohnte bei meinem Mann, also war ihr altes Zimmer frei. Sie zog mit ihrer kleinen Reisetasche und ihrem Computer ein, und dort begann ihr selbst gewähltes Exil. Der einzige Trost war, dass man nicht zwei Einsiedler im selben Haus haben kann, das ist gegen die Regeln oder irgendwas, also befreite sich Mair aus ihrem Kokon und fing wieder an zu atmen. Es nahm ihr eine gewaltige Last von der Seele, und oft frage ich mich, ob diese schwindende Last möglicherweise auch Fragmente ihrer geistigen Gesundheit enthielt.
    Zu dieser Zeit etwa legte Sissi den Grundstein für ihr Internet-Imperium. Sie nutzte das drahtlose Signal aus der Nachbarwohnung und begann sitzend ihre Karriere am unteren Ende der Hackordnung des World Wide Web. Und während sie sich mit den Mechanismen dieses erstaunlichen Netzwerks vertraut machte, lief ihr der eine oder andere Job über den Weg: Marketing, Übersetzung, Redaktion. Acht Jahre später war sie schon der George Soros heikler Internetgeschäfte. Mit Betrügereien im Netz verdiente sie viel Geld. Ich gab mir Mühe, mich nicht nach allzu vielen Details zu erkundigen, weil ich vor Gericht nur ungern lügen wollte. Was ich nicht wusste, konnte mir nicht schaden. Aber ich bekam einige Tricks mit, auf die sie besonders stolz war. Zum Beispiel hatte sie ein Talent dafür, anderer Leute Pornosites zu entern und für ein, zwei Monate zu übernehmen. Da war reichlich zu verdienen. Ich glaube, sie könnte sich eine Weile mit Bankbetrügereien in Nigeria versucht haben, und dann natürlich Identitätsdiebstahl, wie alle anderen auch. Ich glaube, das Hacken hat ihr am meisten Spaß gemacht. Sie konnte sich in eine Website hacken, sie in Sekunden leer räumen und die Informationen für dreiste Manipulationen nutzen, bevor der Betreiber der Seite am nächsten Morgen aus dem Bett kam.
    Es gab Tage, an denen ich mich fragte, wie ich mein Leben der Aufklärung von Verbrechen und der Ergreifung von Straftätern widmen konnte, und dennoch nichts unternahm, um Sissi aus dem Verkehr zu ziehen. Die Antwort kam mir eines Abends, als ich mit ihr Grand Theft Auto III spielte. Warum – fragte ich mich – machte es mir solchen Spaß, mit abgesägten Schrotflinten auf unschuldige, alte Damen zu schießen? Es war doch offensichtlich – weil es nicht real war. Die Welt, in der Sissi ihre Verbrechen beging, existierte nicht. Die Onlinebanken, die sie ausraubte, hatten keine Mauersteine, keinen Mörtel und keine Kugelschreiber, die an Metallbändeln hingen. Die Wohltätigkeitsvereine, die sie sich ausdachte, gab es gar nicht. Selbst die Identitäten, die sie klaute, waren fiktiv. Niemand kam mit einem Namen, einer Adresse, einer Sozialversicherungsnummer zur Welt. Das waren alles künstliche Zusätze. Wen interessierte es also, ob jemand sie sich auslieh. Es war, als würde man Winnie Puh auf der Straße kidnappen, ihn in einen kalten, feuchten Keller sperren, kleine Scheibchen von ihm abschneiden und diese in braunen Umschlägen der Polizei schicken. Und soll ich euch was sagen? Es wäre denen egal. Er ist Fiktion. »Nur zu«, würden sie sagen.
    So rechtfertigte ich Sissis berufliche Tätigkeit vor mir selbst. Ihr Erfolg in der Cyberwelt bedeutete, dass sie keine Verwendung für die eigentliche, baumbewachsene Welt jenseits der Mauern hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit zwängte sie sich manchmal durch das Tor der Universität und machte etwas Powerwalking, aber sie schämte sich ihres Aussehens zu sehr, als dass sie bei Tage unter Leute ging. Wobei ich anmerken sollte, dass sie gar nicht so schlimm aussah. Nachdem sie dem Dämon Alkohol abgeschworen hatte und sich von Mairs nährstoffreichen, wenn auch geschmacklosen Speisen ernährte, brach ihr alter, rosiger Teint wieder durch. Opa Jah richtete ihr hinterm Haus eine kleine Sportecke mit einem Trimm-dich-Rad und einer faltbaren Yogamatte ein. Sie sah besser aus und kam auch langsam wieder besser mit sich selbst zurecht. Ein, zwei Mal hatte sie in Verkleidung kurze Ausflüge zum Supermarkt unternommen und war sogar bei Tageslicht über den Campus spaziert. Ich glaube, das war wohl auch der Grund, wieso Mairs Verrat sie so hart traf.
    Inzwischen hatte sie wieder ein eigenes Schneckenhaus, eine kleine, dunkle Einzimmerwohnung. Sie ließ sich das Essen

Weitere Kostenlose Bücher