Der Tote trägt Hut
erwachsene – ich sage es, ohne dabei zu grinsen – Studenten wie ich ohne soziale Kontakte, die am Wochenende zusammenkamen, um sich allen Ernstes gegenseitig selbst verfasste Essays zum Magischen Realismus in England vorzulesen und sich von den Kommilitonen kritisieren zu lassen. Nach drei Jahren hatte man – vorausgesetzt, man zahlte immer brav die Gebühren und brachte seine Abschlussarbeit hinter sich, die weder man selbst noch die Dozenten ernstlich verstanden – einen Master of Arts in »Kritisches Englisch« in der Tasche. Nicht weglaufen. Dieser kleine Ausflug hat seinen Sinn.
Ein Kurs hieß »Offene Rede und Mündliche Improvisation«. Wir nannten ihn kurz Ormi. Er wurde von einem alten, englischen Explayboy unterrichtet, der immer noch dachte, er hätte es drauf. Er flirtete viel und zog anderthalb Stunden seinen Bauch ein. Es muss eine wahre Erleichterung für ihn gewesen sein, wenn er nach Hause kam und wieder normal atmen konnte. Am Anfang des Kurses teilte er jedem eine Fallstudie zu. Diese bestand aus einer berühmten Person, die viele Reden hielt. Das Ziel war, eine seiner oder ihrer Reden – oder Auszüge aus mehreren – auszuwählen und die Techniken anhand einer Stilanalysentabelle zu analysieren, die der Dozent uns ausgehändigt hatte. Ich war neidisch auf meine Freundin Ning, weil sie Bill Gates hatte und er seine Reden so simpel gestaltete, dass sein Publikum gelegentlich ins Koma fiel. Mir halste man George W. Bush auf. Ich versuchte, ihn gegen Condoleezza Rice zu tauschen. Ich dachte immer, wenn sich ein Mädchen mit dem Nachnamen Rice, das einer ethnischen Minderheit entstammte, aus der Anonymität befreien konnte, dann konnten wir das auch. Aber keiner wollte George, also studierte ich sechs Monate lang das rhetorische Talent des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Und ich hatte es kaum für möglich gehalten, aber Condoleezza stand auf der Wenn-die-es-schaffen-kann-Inspirationstabelle viel weiter unten als George W. Der arme Mann war wirklich kein guter Redner, und ich fragte mich, ob er im Privatleben eigentlich richtige Sätze zustande brachte. Aber George war ein Glückstreffer, und ich bekam für diesen Kurs die Bestnote.
Okay, das war jetzt ein ziemlicher Umweg für die Erklärung, wo ich die Formulierung »morden, wenn einem der Hut geht« zum ersten Mal gehört hatte. George war in Washington D. C. und wieder mal auf dem Teleprompter verrutscht und hing irgendwo zwischen »wenn einem der Sinn danach steht« und »einem geht der Hut hoch« fest. Es endete damit, dass die Terroristen sich gegenseitig »mordeten, wenn ihnen der Hut ging«. Vierzehn Tage hatte ich damit zugebracht herauszufinden, was es bedeutete. Aber es war der erste Satz, der mir in den Sinn kam, als ich von dem orangefarbenen Hut des Abts hörte. So seltsam es auch scheinen mag, wusste ich doch aus unerfindlichem Grund, dass es für den Fall relevant war.
Jedes Stück Holz, jede Muschel, jeder todesmutige Krebs wurde vom großen Scheinwerfer ausgeleuchtet. Ich saß auf dem Grasrand, wo das Meer in der letzten Monsunsaison sein sandiges Abendessen zurückgelassen hatte. Gogo war an meiner Seite, kaute gedankenverloren an den Haaren ihres Hinterteils herum. Ich hatte eigentlich schon immer das Gefühl, dass die Hunde es sich bei den Katzen abgeguckt hatten und es cool fanden, ohne die Idee dahinter zu begreifen. Wenn es um Reinlichkeit ging, waren alle Hunde männlich. Es war Mitternacht. Ich hatte überlegt, ob ich eine meiner Weinflaschen aufmachen sollte, die ich aus Chiang Mai mitgebracht hatte, doch während ich die ungeöffneten Umzugskartons nach dem verschollenen Korkenzieher durchsuchte, blinkte vor mir die Frage »Warum sollte ich?« auf wie die Warnung vor einem schwachen Akku. Feierte ich das Comeback der Kriminalreporterin Jimm Juree, oder betrauerte ich den Niedergang meiner kurzlebigen Unschuld? Würde ich auf die Rückkehr meines hartgesottenen Ichs trinken oder seine Ankunft betrauern? Oder vielleicht hoffte ich auch, dass ich – weintrunken an einem grauen Strand – die sechsundvierzig Farbfotos nicht mehr vor mir sehen musste. Ich dachte, die große, fast volle Untertasse am Himmel – unten fehlte nur ein Splitter – könnte mir vielleicht beim Denken helfen, damit ich Arny am nächsten Morgen etwas zu erzählen hätte. Irgendetwas Aussagekräftigeres als: »Es ist Arbeit.«
Aber der Mond hing nur dort und nahm mir alle meine Ausreden, und zum zweiten Mal in drei Tagen
Weitere Kostenlose Bücher