Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
unversehrt. Aus der Ecke konnte die Drohung also nicht stammen. Die beiden Frauen beratschlagten, ob es sinnvoll sei, sich eine Waffe zu besorgen. Es wäre vermutlich kein Problem, Dante oder Italo kannten mit Sicherheit jemanden, der eine besorgen könnte. Nach einigem Für und Wider kamen sie überein, daß es unnötig sei, sich zu bewaffnen, zumal es nicht darum ging, sich vor Überfällen Drogenabhängiger oder zudringlicher Männer zu wehren.
Das Telefon klingelte. Marlen nahm ab. Am anderen Ende war Fiorilla, die das Treffen am Nachmittag mit eisiger Stimme absagte. Nach den neuesten Enthüllungen würden die Frauen das sicherlich verstehen.
Welche Enthüllungen?
Eine Pause.
»Werfen Sie doch mal einen Blick in die Zeitung …« Eisig und spöttisch. Dann legte Fiorilla auf.
Livia war schon an der Tür. Als sie wiederkam, grinste sie über das ganze Gesicht. »Unter den Bedingungen hätte auch ich keine Lust auf ein Gespräch mit der Presse«, rief sie und warf Marlen den Mattino und das Giornale di Napoli in den Schoß. »Das Testament ist raus. Umbertos Vermächtnis. Er hat die Hälfte seines Vermögens Fiorilla vermacht.«
Marlen wollte erst sagen, wie schön, dann stutzte sie. Und die andere Hälfte? »Einem mildtätigen Kloster in Südfrankreich mit Weinanbau und Hühnerzucht? Oder einem unehelichen Sohn?«
»Noch skandalöser«, sagte Livia. »Du kommst nicht drauf. Der Mann hatte Phantasie. Hör zu: die zweite Hälfte des Vermögens geht anteilig an den Rest des Harems, als da waren: siebenunddreißig Geliebte, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben…«
37 Geliebte beerben den Liebhaber , stand schwarz auf weiß auf dem Titelblatt. Der unterirdische Tote öffnet seine Schatztruhe . Auf Bitte der Witwe Cacciapuoti sei diese Nachricht solange zurückgehalten worden, bis ihr Mann zum zweiten Mal unter der Erde lag, hieß es im dazugehörigen Artikel, um ihr die Schmach zu ersparen, auf dem Friedhof einer Vielzahl von Frauen gegenübertreten zu müssen … Namen wurden aus Gründen der Diskretion nicht genannt. »Wie großzügig«, sagte Marlen.
»Und was für ein großzügiger Mann«, kicherte Livia. »Eine ganze Reihe von Frauen geht zur Abwechslung mal nicht leer aus. Der Mann hatte wirklich Humor. Wie sie das wohl ihren Männern beipulen?« Livia fand den Coup rundum gelungen. »Wieviel jede von ihnen wohl bekommt?«
»Und Fiorilla kriegt auch diesmal nur die Hälfte vom Kuchen«, ergänzte Marlen. »Jetzt muß sie noch ein drittes Mal heiraten.«
»Und was machen wir?«
»Wir halten uns an die Frauen«, schlug Marlen vor.
»An die siebenunddreißig Geliebten? Wie willst du an all die Namen herankommen? Über Giorgio?«
»Ich meine Agnese di Napoli: Salvatores Ex-Freundin, gelernte Restaurateurin, LAES-Erfahrene und Schulfreundin Fiorillas.«
37
Sie beschlossen, Agnese di Napoli unangekündigt in der Mittagszeit einen Besuch abzustatten, sobald der Fiat und die Vespa wieder fahrtüchtig waren. Kurz vor zwölf klingelte es, und Massimo, der Handlanger der Gasse, schwankte auf den Hof. Er war mindestens fünfzig und ziemlich klein, hatte dichte, graue, an einigen Stellen weiße Haare, die ungekämmt abstanden, und kaum noch Zähne im Mund. Man sah ihm sofort an, daß er trank, außerdem roch er nach Schnaps. Wenn er nicht oder nur wenig getrunken hatte, schleppte er für die Leute, die in der Gasse wohnten, schwere Einkaufstüten hoch und pralle Müllbeutel wieder herunter, kümmerte sich um die Reparatur platter Autoreifen, das Waschen von Autos und das Entfernen der Taubenscheiße auf Baikonen und Giebeln. Er arbeitete für den Mann mit den Stühlen, Pasquale, half beim Auf- und Abladen, holte Wasser, putzte jeden Klappstuhl und jeden Klapptisch. All das zu einem – immerhin regelmäßigen – Hungerlohn. Mittags, wenn die Arbeit beendet war, zog er sich in eine dunkle Ecke zurück und begann zu trinken. Später ging er in einen der Weinläden im Viertel, wo sich die Männer trafen, mittags, nachmittags, abends, an verbogene Eisenregale gelehnt, auf Fässern sitzend, rauchend, redend, trinkend, direkt an der Quelle. Dann war mit Massimo nicht mehr zu rechnen. Wenn Livia ihm zufällig über den Weg lief, verkürzten sich seine Sätze auf wenige Brocken, ergänzt durch fahrige Gesten, bis er schließlich nur noch einzelne Laute hervorbrachte, schwankte, beinahe das Gleichgewicht verlor und sich kurz vor dem Fall wieder aufrichtete, als hätte er die Szene perfekt einstudiert: euer
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