Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Stehaufmännchen Massimo. In letzter Zeit war es immer häufiger passiert, daß er hinfiel und sich die Stirn aufschlug. Jugendliche, die zu mehreren an den Ecken standen und nicht wußten, wohin mit sich und dem Leben, nahmen ihn als Zielscheibe, lachten ihn aus, verhöhnten und schubsten ihn, manchmal schlugen sie auch zu: Massimo stolperte, fiel hin, stand torkelnd wieder auf, ein öffentliches Schauspiel, von den Baikonen sahen die Bewohner des Viertels dem Spektakel zu, einige lachten, andere feuerten die Jugendlichen an, wenige – zu wenige – versuchten einzugreifen. Massimo wehrte sich nie. Manchmal kam seine Frau angelaufen und sammelte ihn ein. Es hieß, sie und die Söhne würden ihn zu Hause schlagen, ihm nichts zu essen geben. Genaues wußte keiner, geredet wurde viel.
» Ecco, signorina, tutto aposto! « Der Fiat und die Vespa waren draußen an der Mauer geparkt. Livia fragte ihn besorgt, ob er etwa selbst gefahren sei. Massimo winkte entrüstet ab. Er habe doch keinen Führerschein! Der Junge aus der Autowerkstatt habe erst den Fiat, dann die Vespa hergefahren. Livia nickte. Sie kannte den Jungen aus der Werkstatt. Er war fünfzehn. Sie gab Massimo fürs Organisieren zwei Zehntausendlirescheine, die er ab wehrte – » E troppo, signorina, troppo! « – dann dankend einsteckte. Er verabschiedete die beiden Frauen mit einer angedeuteten galanten Verbeugung. » Buona giornata, signorine! «
Diesmal drehte Livia den Schlüssel mehrfach im Schloß herum, bis der dicke Eisenriegel sich vollständig hinter die Tür in der Mauer geschoben hatte. Dann stiegen die beiden Frauen auf die Vespa und knatterten nach Bagnoli, wo Agnese di Napoli wohnte.
In diesem Vorort Neapels kannte sich auch Livia nicht aus. Es war zwar keine üble Gegend, aber auch keine, wo Freunde von ihr wohnten. Bagnoli stand für das riesige, verlassene Monstrum der Stahlwerke Italsider, für ehemals vornehme, nun heruntergekommene Villen, einst mit Blick aufs Meer, nun auf Fabrikumzäunungen. Der Strand war verdreckt, vom Wasser ganz zu schweigen. Mit dem Auto oder mit der Cumana fuhr man normalerweise an Bagnoli vorbei nach Pozzuoli, Miseno, Baia, Cuma, an den ehemaligen Rand der westlichen Welt vor Neapel. Dabei war Bagnoli eine völlig durchschnittliche Wohngegend, insgesamt noch ein ganzes Stück wohnlicher als der Osten der Stadt, wo die Ölraffinerien vor sich hin stanken.
Die Freundinnen hielten vor einem Wohnblock und fragten zwei ältere Männer, die an einem Auto lehnten und schwatzten, nach der Via Rufino. Die Männer hoben entschuldigend Schultern und Hände. Mit Straßennamen war das so eine Sache. Man kannte Häuser, Läden, Leute und Straßen, die für das Allgemeinwohl von Bedeutung waren: Geschäftsstraßen, Hauptverkehrsadern, Plätze mit Kirchen. Mehr nicht. Marlen und Livia kurvten weiter durch die rechtwinklig angelegten Straßenzüge: Via Virgilio, Via Catullo, Via Seneca, hochgestochene Namen für hoch aufragende Häuser. Die Via Rufino lag um die Ecke.
Ein schlaksiger Halbwüchsiger öffnete die Tür und rief, so bald er sie sah, genervt nach hinten: »Mamma, für dich, schon wieder Frauen …« Woraufhin er sich abwandte und davontrottete. Marlen und Livia blieben – unschlüssig, ob das einer Aufforderung gleichkam, ihm zu folgen – auf der Türschwelle stehen, vernahmen einen kurz heftigen Wortwechsel, ohne Genaueres zu verstehen, dann wurde eine Tür zugeknallt. Am hinteren Ende des Flurs erschien eine mittelgroße Frau in Jeans und Herrenhemd. Dunkelrot gefärbte, schulterlange, lockige Haare, eine energische, tatkräftige, sinnliche, ungekünstelte Ausstrahlung. Livia fand sie auf Anhieb sympathisch, vielleicht, weil sie an Wochenenden zu Hause oft ähnlich herumlief.
Sie betraten einen großen, hellen Raum, der offenbar zugleich als Eß-, Wohn- und Arbeitszimmer diente. Durch einen Wandbogen ging es in eine winzige Küche, eine weitere Tür führte vermutlich in das Zimmer des Sohnes. Agnese di Napoli stellte zwei weitere Gläser auf den Tisch. »Wasser? Wein?« Sie schenkte ein, die Frauen sahen sich um. In einer Ecke stand ein großes Bett mit einer buntgemusterten Tagesdecke – ein Geschenk von Salvatore, dachte Marlen – an der Wand daneben befand sich eine Art Tapeziertisch, darauf mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten gefüllte Marmeladengläser, Pinsel, Tuben, Fläschchen mit Lack, Spachtel, Messer, Feilen in diversen Größen.
Agnese sagte, sie arbeite auch zu Hause, kleine Aufträge,
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