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Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)

Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)

Titel: Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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der Blick ein wenig unsicher, nackte Oberarme, dünner als die MP-Munition, die ihm um den Hals hing wie eine Perlenkette, eine Trophäe, nur daß das Gewicht der Patronen sichtbar nach unten zog. Der Junge sah aus, als hätte er den Kleiderschrank der Eltern oder der Großeltern durchstöbert und sich verkleidet, Kriegsspiele, Indianerspiele, laß uns »Erwachsene« spielen, au ja – au weh.
    Im Buch ging es darum, wie es einer einzigen Stadt mitten im zwanzigsten Jahrhundert gelingen konnte, sich gegen eine bestens bewaffnete und durchaus motivierte Armee wie die Hitlers zur Wehr zu setzen – und zwar mit Mitteln, die eher ins 19. Jahrhundert zurückreichten: Es wurden Barrikaden gebaut, Waffen improvisiert, man versuchte, die deutschen Besatzer durch spontane, überraschende Überfälle und Angriffe zu schwächen. Es gab jede Menge Ideenreichtum und ein Minimum an organisierter Struktur. Viele Neapolitaner, die noch nie eine Waffe gesehen oder gar in die Hand genommen hatten, nahmen unaufgefordert an dem Aufstand teil, Intellektuelle, Studenten, Arbeiter, Kleinbürger, Frauen, Priester, dazu versprengte Soldaten und die scugnizzi , die in dem Buch besonders hervorgehoben wurden. Der Autor berichtete von den Anfängen des Faschismus in Neapel, und davon, wie die Antifaschisten allmählich von der Bildfläche verschwanden; dann der Krieg, die Niederlagen Italiens in Afrika und Griechenland, Mitte 1943 der Sturz Mussolinis, am 8. September der offizielle Waffenstillstand mit den Alliierten.
    Obwohl es eigentlich ihr Thema war und Alibi für diese Reise nach Neapel, mußte Marlen sich regelrecht durch die ersten fünfzig Seiten hindurchkämpfen, ein Lesekampf, auf daß niemand ungeschoren davonkommt, auch die Nachgeborenen nicht: wenn sie schon nicht dabei gewesen waren, sollen sie wenigstens beim Lesen leiden, dachte Marlen und beschloß, die eigene Tapferkeit auf eine halbe Stunde zu begrenzen. Das Buch verzeichnete Schlachten, Medaillen, Zahlen, die Zahl der Opfer, die Zahl der Verletzten, die Zahl der Toten, dazu die Namen derer, die in den patriotischen vier Tagen Ende September 1943 Gold- oder Silbermedaillen errungen hatten, ein Bodensatz aus von Panzern überrollten bekränzten Helden. Nach weiteren zehn Minuten hatte es mit Marlens Tapferkeit ein Ende, diese bombastischen Aneinanderreihungen von Zahlen, das wortgewaltig auf gemotzte Heldentum, die Legitimierung der Opferbereitschaft widerten sie an. Gewalt der Sprache, dachte sie immer zorniger, Gewalt durch Sprache: auch nach dreißig Jahren noch – das Buch war in den siebziger Jahren erschienen – ist es eine Sprache der Kämpfenden, der Kriegführenden, Waffentragenden, der heldenhaft Gestorbenen. Eine geschichtliche Chronik aus Männerhand.
    »Zum Kotzen«, sagte Marlen laut, zumal all die Zahlen und Berichte aussagekräftig genug waren, und klappte das Buch zu.
    Wo Livia nur blieb. Sie hatten nichts Genaues verabredet, Marlen war stillschweigend davon ausgegangen, daß Livia nach der Arbeit nach Hause kommen würde. Inzwischen war es kurz vor acht. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Nach weiteren zehn Minuten setzte sie sich allein an den Tisch und verspeiste mit Genuß die Hälfte der Artischocken, die sie in der Pfanne gegart hatte, und dann noch einmal die Hälfte der Hälfte, die sie eigentlich Livia übriglassen wollte. Während sie sich ein Glas Wein einschenkte, war sie davon überzeugt, daß es das einzige Glas bleiben sollte und würde, doch dann erschien es ihr wie ein Frevel, zur dritten Artischockenportion keinen Wein zu trinken. Durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche der Stadt herein, dominiert vom Gequäke und Geknatter der Vespas, vom Aufheulen der Motorroller und Hupen anderer Fahrzeuge, dazwischen vereinzelt Stimmen, Lachen, Schreie – menschliche Stimmen, die sich noch unterscheiden ließen vom sonoren Klang der gemischten Fernsehprogramme, laute, aufgeregte Wortwechsel an der Gegensprechanlage, das Surren des Türöffners, das Klacken einer Tür, ein bellender Hund. Leben, keine Stille, fast nie.
    Der Gang in die unterirdischen Gemächer der Stadt hatte bisher in keinster Weise in die eigene Kindheit zurückgeführt, ein romantisches Hirngespinst, nichts weiter. Vielleicht auch erschreckend deutsch, dachte sie plötzlich, diese Art, sich überall anzubinden. Die oft unbequem lästige Vergangenheit, die in Marlens Leben so selbstverständlich Platz genommen hatte wie sie selbst in einem dieser alten achtsitzigen

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