Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Zugabteile bei ihrem allerersten Italienbesuch, forderte immer wieder den Vergleich heraus – sobald sie sich in Bewegung setzte, ihr Land verließ, sich auf Reisen begab, den Vergleich zum Beispiel mit der lauten Lässigkeit in Neapel, mit den hohen, heruntergekommenen Palazzi, der Enge, dem Lärm. Was eben auffällt an fremden Orten. Was anders ist. Diese geräuschvolle Stadt dort draußen, die auf Widersprüchen gebaut schien und immer neue Widersprüche hervorbrachte, war im Moment haargenau das richtige, nicht voller Wunder, sondern voller Widersprüche.
Vom Fenster aus war über den Häuserdächern eine Ecke des Museo di San Martino zu sehen, hell angestrahlt vor dem dunklen Castel San Elmo, das wie ein schützender Schatten dahinter ruhte. Wenigstens nachts ist Neapel sanft, dachte Marlen in einem Anflug von Schwärmerei. Entsprechende Bilder kamen ihr in den Sinn: das der verarmten Aristokratin, die sich offenen Auges schlafen legt, um zu wachen, das der Vagabundin, der Stadtstreicherin mit festem Wohnsitz. Sogleich dachte sie: alles Quatsch, alles Blödsinn. Wer wacht, schläft nicht. Die Kinder nachts um drei auf der Via Roma, die auf Holzkisten Zigaretten feilbieten, wann schlafen die? Immer diese Versuchung, das nicht Greifbare mit Hilfe von Bildern zu begreifen, Vergleiche, Begriffe zu finden, und alle waren sie unzulänglich, weil sie immer nur einen Teil abdeckten. Der Rest lappte über wie der Teig beim Ausstechen von Weihnachtsplätzchen: zusammenkratzen, noch einmal gut durchkneten, ausrollen, dann noch zwei Tannenbäume und vier Sterne, und immer wieder blieb ein Rest. Die Versuchung, alle Plätzchen ineinanderzumengen und es noch einmal zu probieren.
12
Livia ließ die Tür ins Schloß fallen, stürmte in den dunklen Raum und wäre beinahe gegen den Tisch geprallt, so voller Energie war sie. »Wir haben ihn!« rief sie triumphierend. »Hast du gehört? Marlen? Wo bist du?« Dann entdeckte sie die Freundin am Fenster. »Wieso machst du kein Licht? Hast du etwa schon wieder einen Toten entdeckt?«
Marlen schnitt eine Grimasse. »Wenn du so willst, viele. Nur daß sie schon seit fünfzig Jahren tot sind.«
Livia hörte gar nicht zu und packte sie an den Schultern. »Hast du nicht gehört? Wir haben ihn. Ich habe ihn gesehen.«
»Wen?« Marlen starrte sie verständnislos an. In die Nachtgedanken hinein klang Livias Stimme unangenehm grell. Dann fiel der Groschen. »Wen hast du gesehen? Etwa Salvatore?« Sie wurde hellwach. »Sag schon! Wo? Wann? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Wieso Salvatore?« Livia war nicht auf dem laufenden, was Marlens Suchaktion betraf. » Den Toten haben wir gefunden, Mensch, deinen Toten! Euren Toten!«
Wieso unseren Toten, dachte Marlen, auch wenn sie sofort kapiert hatte, wer gemeint war. »Ist nicht wahr.« Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und starrte die Freundin an.
Wenn Livia den Toten gefunden hatte, mußte sie irgendwie in die unterirdischen Gänge gelangt sein. Aber doch nicht etwa mutterseelenallein. Wer war wir ? Wen hatte sie eingeweiht?
»Na ja alle«, sagte Livia, vor Aufregung ganz ungeduldig. »Alle, die bei der Führung mit dabei waren.«
Marlen schwante etwas. »Bei welcher Führung?«
»Den dieser Verein organisiert, LASES, heißt er, glaube ich.«
»LAES«, korrigierte Marlen mit tonloser Stimme.
»LAES oder LASES, ist doch völlig egal.« Livia klang gereizt, sie wollte ihre Geschichte loswerden, und Marlen gab sich mit Buchstaben ab.
»Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?« fragte Marlen empört. »Vielleicht wäre ich…«
»Du?« Livia fuchtelte mit den Armen durch die Luft, als wolle sie Fliegen verscheuchen. »Weißt du noch, was du gestern gesagt hast? Wie dir zumute war? Oder hast du das schon vergessen? Und überhaupt, willst du noch mehr saudumme Fragen stellen oder erst mal hören, was da unten los war?«
»Nun mal langsam«, sagte Marlen. »Setz dich erst mal hin Komm zu dir. Also, was ist mit dem Toten?«
»Der kommt erst am Schluß«, trumpfte Livia auf, die momentane Herrin über die Story, und hielt sich, nicht einmal aus Bosheit, eine Weile bei der Vorgeschichte auf. Wie es ihr den ganzen Vormittag durch den Kopf gespukt war, das unterirdische Neapel, eine fixe Idee, die sie auf Teufel komm raus in die Tat umsetzen mußte. Sie hatte sich erkundigt, wer solche Führungen macht, bei der LAES angerufen, die für den Nachmittag eine Sonderführung für eine Gruppe von Natoangehörigen angesetzt hatte, mit
Weitere Kostenlose Bücher