Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
eine halbe Stunde nur, immerhin. Bei der übernächsten Verabredung tauchte er überhaupt nicht auf. Sie hatte gewartet, an ein Versehen geglaubt, falscher Tag, falscher Ort, wie er beteuerte – falscher Mann, dachte sie jetzt. Danach war wieder alles beim Alten und sie versöhnt. Doch es begann sich einzupendeln, vielleicht Gewohnheit, vielleicht ein Mißklang, der schriller wurde, bis er sich nicht mehr überhören ließ. Das wohlbekannte Spielchen, die alten Muster aufgefahren: Wird’s mir zu eng, such ich das Weite. Er kam, holte sich, was er brauchte, und wenn dabei für sie etwas abfiel, war es schon Anstrengung genüg, so kam es ihr jedenfalls vor, aber vielleicht hatte er Ärger bei der Arbeit, oder zu Hause.
Diese verständnisvollen Frauen, dachte die Tabakfrau jetzt und ballte die Fäuste. Wir folgen auch nur einem Muster, leben das, was unsere Mütter und Tanten und Großmütter, die Nachbarinnen und deren Vorfahren gelebt haben, immer diese Nachsicht, diese Rücksicht, die mamma in Leib und Seele, der Blick zurück und nicht nach vorn, das Ausharren, das Abwarten, das lächelnde Umschweigen, so vergehen die Jahre, so vergeht das Leben.
Sie spürte, wie ihr kalt wurde. Geh doch nach Schweden, dachte sie in einem Anflug von Zorn, fahr zur Hölle! Sie hatte nicht stumm Zusehen wollen, wie das Begehren einfach verpuffte und statt dessen das wöchentliche Gerammel erneut Einzug hielt. Ohne mich!
Entschlossen stand sie auf. »Ich brauche eine Pause.«
Livia trat hinter der Leinwand hervor. »Wollen Sie es sich anschauen?«
Die Tabakfrau schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Erst wenn es fertig ist.«
Nach der Pause schloß die Tabakfrau die Augen. Sie hatten über Anna gesprochen. Anna war wieder da. Die Tabakfrau ließ sich in der Zeit um ein paar Stunden zurückfallen. Sonntag früh, sie war aufgestanden, schlaftrunken in die Küche gegangen, hatte zunächst gar nicht bemerkt, daß die Tür zu Annas Zimmer nicht mehr offen stand. Erst nach dem ersten Espresso, auf dem Weg ins Badezimmer, hatte sie gestutzt, sich die Augen gerieben, wollte erst klopfen, ließ es dann sein, ging statt dessen zur Garderobe, wo tatsächlich Annas Lederjacke hing, wo ihre Stiefel lagen, einfach auf den Boden geschleudert wie immer, doch was machte das schon.
Sie hatte sich vorgenommen, nichts zu sagen, und war stolz, daß sie es fast geschafft hatte, dank der bevorstehenden Malsitzung, dank all dieser unerwarteten Ereignisse – dank des toten Umberto, hätte sie beinahe gedacht. Denn als Anna gegen zwei aus dem Zimmer geschlichen kam, war die Tabakfrau gerade auf dem Sprung. Ihr blieb kaum Zeit, Sorge und Freude ihren Lauf zu lassen, was Anna wie jede Art von Fürsorge fuchsteufelswild gemacht hätte.
Anna war hübsch, schlank, begehrt. Die Tabakfrau vermochte nicht zu sagen, ob ihre Tochter die Präservative, die sie ihr ab und zu in die Hosentaschen steckte – so wie sie ihr früher auf dem Weg in den Kindergarten Bonbons zugesteckt hatte – auch wirklich benutzte. Sie lebten in getrennten Welten. Reden wollte wieder gelernt sein. Manchmal schrie sie: »Komm mir bloß nicht mit einem dicken Bauch an!« Dann schrie Anna zurück: »Keine Angst, dich werde ich bestimmt nicht imitieren!« Später versöhnten sie sich wieder, die schlanke Anna und die dicke Mutter. Die Angst jedoch blieb, das unwägbare Terrain, auf dem die Guten und die Bösen Kämpfe ausfochten, und die Angst, wem die Tochter in die Hände fallen könnte auf dem verschlungenen Weg zum Erwachsenwerden. Die Tabakfrau wollte ihrer Tochter nicht dauernd damit in den Ohren liegen. Sie erinnerte sich zu gut an ihre eigene Mutter, die sie zehnmal täglich vor den Gefahren des Lebens, an erster Stelle: den Männern, gewarnt hatte. So etwas schürte einen unwiderstehlichen Reiz.
»Schön, daß du wieder da bist.« Diesen Satz konnte und wollte sie sich dennoch nicht verkneifen. Und wie als Schutz vor jedem weiteren Wort zuviel war sie auf Anna zugegangen und hatte sie in den Arm genommen, kurz und fest, nur eine Sekunde lang.
»Du riechst gut«, hatte Anna erstaunt erwidert, gefolgt von einem: » Mamma mia! Wo hast du denn das Kleid her? Bist du auf Männerfang, oder wie?«
»So ähnlich«, hatte die Tabakfrau in ihrem neuen hellgrünen Kleid mit dem gewagten V-Ausschnitt gelächelt. Und Anna, die der Mutter seit Monaten keinen wirklichen Blick mehr zugeworfen hatte, hatte ihre Mutter rundum begutachtet, hatte den Lippenstift, die lackierten Nägel und sogar
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