Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
wenig beunruhigt, während Livia fortfuhr: »Ihre Perspektive ist durch und durch weiblich, als sei die erlittene Gewalttätigkeit durch den Pinsel auf die Leinwand geflossen, mit Leib und Seele. Die Frau ist nicht mehr das Opfer, die Leidende, sie beginnt sich zu wehren, zu handeln, die Dinge« – sie lächelte »für sie: den Pinsel, in die Hand zu nehmen. Das war neu. Das ist immer noch neu. Ihre Bilder sind für mich eine Art Gedächtnis, das auch nach Jahrhunderten noch lebendig bleibt.«
Die Tabakfrau nickte und schwieg. »Und in welchem Sinne ist sie kein Vorbild für Sie?« fragte sie dann.
»Sie war sehr einsam«, sagte Livia. »Ich bin lieber unter Menschen, mit Menschen. Sie soll recht hochmütig gewesen sein, abweisend. Kein Wunder, sie hatte noch mehr zu verteidigen als eine Frau von heute.«
»Ist sie das?« fragte die Tabakfrau stirnrunzelnd und deutete auf das Gemälde hinter dem Paravent.
»Nein«, lachte Livia. »Das soll ich sein. Ist schon ein paar Jährchen her. Mein erstes Selbstporträt. Es ist einem Gemälde von Artemisia Gentileschi nachempfunden, das Lapittura heißt und in London hängt. Es bedeutet mir sehr viel. Ich würde es nie verkaufen.«
»Natürlich nicht«, nickte die Tabakfrau. In ihr regte sich ein Verdacht. Die Ähnlichkeit der beiden Bilder war beunruhigend.
19
Es gab Neuigkeiten. Luzie hatte sich unsterblich in einen jungen Londoner Schlagzeuger verliebt und liebäugelte seit dieser schicksalsträchtigen Stunde mit einer Karriere als Rocksängerin. Livia war von Jean, dem Direktor des Französischen Kulturinstituts, zu einem Abendessen unter vier Augen eingeladen worden.
Nur Marlen kam in Sachen Salvatore keinen Schritt voran. Der unterirdische Tote war im Verlauf des Wochenendes auf Seite vier abgerutscht. Als neuer Spitzenreiter fungierte die Verstrickung eines amtierenden Ministers in einen Baubestechungsskandal.
Im Regionalteil des Giornale di Napoli wurde immerhin ausführlich über die Ergebnisse der Obduktion berichtet. Der ehrenwerte Weinhändler Umberto Cacciapuoti sei bereits länger als eine Woche tot gewesen. Zweifel bestünden hinsichtlich der Todesursache, denn eine erste Blutprobe habe ergeben, daß Cacciapuoti kurz vor seinem Tod Kokain genommen haben mußte. Mit Crack verschnittenes Kokain? Möglicherweise, hieß es im Giornale di Napoli , sei der Weinhändler drogenabhängig gewesen, wozu sich weder die Witwe noch die beiden Angestellten in den Vini Divini Francesi äußern wollten. Seltsam seien auch die Schleifspuren, die die Männer von der Spurensicherung entdeckt hatten und die eindeutig darauf hinwiesen, daß Tat- und Fundort nicht identisch waren und daß mindestens eine Person, wenn nicht zwei oder drei, den Toten zum Fundort geschleppt haben mußte. Selbstmord wurde aus diesem Grund mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen. Die Waffe, eine kleinkalibrige Pistole, sei indes noch nicht gefunden worden. Über den Fortgang der Ermittlungen hüllten sich die Mitarbeiter der Kriminalpolizei jedoch in Schweigen, um keine heißen Spuren zu verwischen, wie der Journalist mutmaßte. Ein Polizeisprecher hatte jedoch eingeräumt, Umberto Cacciapuoti sei nicht der erste unterirdische Tote. Die Gänge und Schächte unterhalb der Stadt wurden, wie man in dem Artikel ebenfalls erfuhr, offenbar seit Jahren und Jahrzehnten dazu benutzt, sich unliebsamer Mitmenschen zu entledigen – genau wie die Tabakfrau gesagt hatte. Einige der mysteriösen Morde der letzten Jahre, die der Camorra zugeschrieben wurden, hieß es, könnten möglicherweise aufgeklärt werden, wenn man das gesamte unterirdische Areal von Ponticelli bis Posillipo systematisch absuchen würde. Das Gebiet sei jedoch größtenteils unzugänglich und liege teilweise unter Wasser. In einer Randnotiz wurde mitgeteilt, daß die unterirdischen Führungen bis auf weiteres ausgesetzt wurden.
Marlen legte die Zeitung zur Seite. Sie jedenfalls würde nicht so schnell lockerlassen. Vielleicht war es Zufall, daß ausgerechnet sie den Toten entdeckt hatte, vielleicht aber auch nicht. In Neapel lagen Aberglaube und Wirklichkeit dichter nebeneinander als im pragmatischen Norden. Jedenfalls juckte es sie in den Fingern, genauer herauszufinden, was für ein Mensch dieser Tote auf dem Diwan gewesen war. Da war berufsbedingte Neugier mit im Spiel, das Aufspüren einer Story. Wenn die Dinge ins Rollen kamen, konnte sie nicht tatenlos Zusehen. Und insgeheim hoffte sie, etwas über den verschwundenen Salvatore
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