Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
die verlorenen Pfunde bemerkt, angesichts des Ausschnitts die Stirn gerunzelt, dann aus ihrem Zimmer einen grünlich changierenden Seidenschal geholt. »Den leih ich dir. Aber nicht verlieren.«
Die Tabakfrau war zu verblüfft gewesen, um etwas zu antworten. Kleiner Rollentausch? Warum nicht. Die Mutter geht aus, die Tochter bleibt zu Haus. Sie hatte sich in die Metro gesetzt, war bis Montesanto gefahren, den Rest zu Fuß gegangen, überzeugt davon, daß es von nun an bergauf gehen würde, vor allem mit ihr und Anna, denn solange der Faden zwischen ihnen sich nur verhedderte, aber nicht ganz abriß, gab es für alles eine Lösung. Man mußte nur nach ihr Ausschau halten.
Beschwingt öffnete sie die Augen, streckte die Schultern zurück und sah der Malerin zu, wie sie konzentriert hinter der Leinwand stand und ihr immer wieder einen Blick zuwarf, ihr, dem Objekt. Dann blieb ihr Blick an dem Bild haften, das hinter dem Paravent an der Wand hing. Ein altes Gemälde aus einem anderen Jahrhundert, das eine Malerin bei der Arbeit zeigte. Ins Auge fielen zuallererst der leicht erhobene Arm mit dem aufgekrempelten Ärmel, die Hand, der Pinsel, der irgendwo außerhalb des Bildes auf die Leinwand traf, von dort glitt der Blick den Arm hinunter zum Gesicht der Frau. Die Malerin ging ganz und gar in ihrer Arbeit auf, blickte ernst, konzentriert, prüfend auf die Leinwand, die Wangen waren gerötet, die Haare standen wie gerauft vom Kopf ab. Der Pullover war am Hals weit geschnitten, der Ausschnitt gab die linke Schulter frei. Sie zeigt einem die kalte Schulter, dachte die Tabakfrau, und selbst das ist ihr egal. Sie blickte vergleichend zu Livia zurück, die ein ähnliches T-Shirt trug, hellere Haare jedoch, keine roten Wangen. Livia lächelte. Es macht ihr Spaß, dachte die Tabakfrau, sie ist in sich versunken, oder in die Farbe, in die Leinwand, in mich, in mein zweites Ich, das dort entsteht, die Kopie von Assunta Maria Balzano.
Hatte das Bild auch beim letzten Mal schon dort gehangen? Es kam ihr bekannt vor, obwohl sie es mit Sicherheit noch nie gesehen hatte. Je länger die Tabakfrau es betrachtete, desto lebendiger und jugendlicher wirkte es – als sei es nur ein Schritt von heute zu damals und wieder zurück.
Als die Tabakfrau sich hinter dem Paravent wieder anzog, erkundigte sie sich beiläufig nach dem Bild an der Wand.
»Eines meiner ersten echten Gemälde aus der Zeit nach der Akademie«, sagte Livia stolz und spöttisch zugleich. »Ich hänge sehr dran. Haben Sie schon mal etwas von Artemisia Gentileschi gehört?«
Die Tabakfrau schüttelte den Kopf. »Ich bin nur acht Jahre zur Schule gegangen«, sagte sie.
»Sie war Malerin«, sagte Livia, »und zwar im siebzehnten Jahrhundert in Neapel. In gewissem Sinne ist sie ein Vorbild für mich.«
»In welchem Sinne?« wollte die Tabakfrau wissen.
»Für die damalige Zeit war sie relativ unabhängig. Eigensinnig.«
Livia erzählte das wenige, was sie aus dem Leben von Artemisia Gentileschi wußte. Daß sie die Tochter von Orazio Gentileschi war, einem angesehenen Maler und Freund Caravaggios; daß es in Rom einen üblen Prozeß um ein falsches Heiratsversprechen und sexuellen Mißbrauch gegeben hatte, in dessen Verlauf Artemisia, »zwecks Wahrheitsfindung«, körperlich und seelisch gedemütigt und gefoltert worden war; daß sie unter Männern aufgewachsen war und als eine der ersten Frauen überhaupt eine Akademie besucht hatte.
»Sie hat geheiratet, ist dann nach Neapel gegangen, hat allein gelebt, für das frühe 17. Jahrhundert wirklich mutig«, fuhr Livia fort.
»Was hat sie denn gemalt?« erkundigte sich die Tabakfrau.
»Auch biblische Themen, wie die hochgestellten Auftraggeber es verlangten, wie es zeitgemäß war, zumal für eine malende Frau, aber aus ihrer eigenen Perspektive heraus: angstvoll, bedrängt, ohnmächtig, leidenschaftlich, wütend, mutig. Madonnen mit Kind, die Lucretia, Susanna und die Ältesten, Verkündigungen, Judith und Holofernes und eine Reihe von Bildern, die ihr erst neuerlich zugeschrieben wurden. Eines davon wurde vor kurzem aus dem Palazzo Reale gestohlen, Unbekannte Frau das Bildnis einer Frau aus dem Volk, was beweist, daß Artemisia Gentileschi nicht nur akademische Malerei betrieben hat. Ihre Frauen sind sinnlich und handgreiflich zugleich. Gehen Sie mal ins Museo di Capodimonte, da hängt ihr Bild Judith enthauptet Holofernes , wenn Sie das sehen, dann verstehen Sie vielleicht, was ich meine.«
Die Tabakfrau nickte, ein
Weitere Kostenlose Bücher