Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
näher anzusehen. Sie hatte soeben die Glastür abgesperrt, als drinnen das Telefon zu läuten begann. Hektisch schloß sie wieder auf und lief zum Apparat.
Es war Salvatores Mutter. Sie hatte eine Nachricht von Salvatore. Eine recht indirekte Nachricht jedoch. Ein Freund ihres Sohnes hatte sie am Tag zuvor angerufen: im Auftrag von Salvatore. Salvatore habe ihn gebeten, ein paar Sachen für ihn abzuholen. Heute nachmittag. Sie hatte gefragt, warum ihr Sohn nicht selbst vorbeikomme, aber der Freund hatte nur gesagt, Salvatore sei verhindert. Ob sie zwischen drei und sechs zu Hause sei?
»Stellen Sie sich vor!« empörte sich Signora delle Donne. »Zwischen drei und sechs, hat er gesagt. Als ob man nichts anderes zu tun hat. Als ob man nur darauf wartet, daß ein Freund des Sohnes vorbeikommt, um die Post und die gebügelte Wäsche abzuholen!« Sie fragte Marlen, ob sie am Nachmittag Zeit habe und »ganz zufällig« auch da sein könne, wenn dieser Freund kam. »Als wenn sie zufällig gerade vorbeigekommen sind, um meinem Sohn dieses Buch zu bringen«, sagte sie. »Vielleicht sagt er Ihnen ja, wo Salvatore gerade steckt. Und ich dachte, dann könnten Sie ihm das Buch selbst…«
So läuft der Hase, dachte Marlen. Sie macht sich Sorgen. Und sie hofft, daß ich erreiche, was ihr selbst als Mutter nicht mehr gelingen kann. Diese Rolle gefiel Marlen ganz und gar nicht. Und darüber hinaus bezweifelte sie, daß der Plan funktionieren würde. Aber sie hatte schon einen anderen parat…
»Dummerweise habe ich heute nachmittag keine Zeit«, sagte sie. »Tut mir wirklich leid.« Sie bedankte sich bei Salvatores Mutter für den Anruf und betonte, daß sie sich sehr freuen würde, wieder etwas von ihr zu hören, falls ihr Sohn sich melden sollte.
Auf dem Weg zum Weinladen schaute Marlen kurz bei der Tabakfrau vorbei, die wie eine Kartenlegerin hinter dem Ladentisch thronte und bediente: mit geschürzten roten Lippen und rotlackierten Fingernägeln griff sie hinter sich oder nach rechts oder links, gruppierte die Objekte vor sich auf dem Zeitungspapier, wickelte sie ein und schnürte sorgfältig ein Band drumherum: ein Geschenk. Sie machte Marlen ein Zeichen, daß sie warten solle, bediente die nächste Kundin, ließ die übernächste wiederum warten, stand auf und kam um den Ladentisch herum.
»Ich habe mit meiner Mutter gesprochen«, sagte sie halblaut zu Marlen. »Wegen damals, im Krieg. Sie würde Sie gern kennenlernen. Paßt es am nächsten Sonntag?« Auch Livia sei eingeladen, sofern sie Lust und Zeit hatte. Vielleicht konnten sie alle drei gemeinsam nach der Malsitzung zu ihrer Mutter fahren, schlug die Tabakfrau vor.
22
Die Vini Divini Francesi waren ein gut geführter, geschmackvoll eingerichteter Laden in der Via Carlo Poerio: gute Gegend, übersichtliche Regale, ein Tischchen mit offenen Flaschen zum Probieren, blauweißrote Fähnchen hier und dort, eine riesige Karte der Weinbaugebiete Frankreichs an der Wand. Kein Schnickschnack, keine Kunstgegenstände weder in der Vitrine noch im Laden selbst – jedenfalls soweit Marlen das mit ihrem Laienblick beurteilen konnte. Ein dicklicher, etwa fünfzigjähriger, in einen dunklen Anzug gekleideter Herr, der Marlen bis zum Kinn, Fiorilla maximal bis zur Schulter reichte, beriet soeben zwei elegante Damen. Marlen sah sich im Laden um, nahm die eine oder andere Flasche in die Hand, studierte das Etikett, versuchte eine Kennermiene aufzusetzen.
Der Verkäufer – oder Geschäftsführer – unterbrach sein Gespräch und erkundigte sich, ob er ihr behilflich sein könne. Sie gab ihm zu verstehen, daß sie Zeit habe, und zeigte auf den Tisch mit den bereits geöffneten Flaschen. Sie würde zwei, drei Weine probieren, wenn es recht sei.
» Ma certo, signora, prego, prego , bedienen Sie sich, dafür stehen die Flaschen ja da.«
Beflissen wandte sich der Mann wieder den beiden Kundinnen zu. Marlen hörte, wie er etwas von »atlantischer Brise« sagte, »unterlegt mit Orangenblüte«, dann: »Sandsturm im ‘Frühling«. Es ging offenbar um eine Weinprobe, die bei einer der beiden Damen zu Hause stattfinden sollte. Der Mann im dunklen Anzug erwähnte diverse Weinsorten, machte sich Notizen. Und Marlen probierte derweil. Sie schenkte je einen Daumen breit in die bereitgestellten Gläser ein. Der Wein stieg ihr schnell zu Kopf. Sie mußte sich dazu zwingen, nach der fünften Flasche aufzuhören.
Sie wählte einen Volnay, einen Château des Moines und eine Flasche der
Weitere Kostenlose Bücher