Der Tote vom Kliff
gravierenden geografischen Nachteil: Hamburg liegt nicht am Meer,
sondern einhundertzwanzig Kilometer landeinwärts im Binnenland. Das bedeutet,
wir müssen noch besser und schneller sein, noch intelligentere Lösungen
anbieten als unsere Konkurrenten. Oder …« Der Senator legte eine Kunstpause
ein. »Oder – wir müssen versuchen, die großen Handelspartner enger an uns zu
binden.«
Lüder verstand, was Senator Montag sagen wollte. China
war die Nation mit den höchsten Zuwachsraten in der Wirtschaft, eine – wenn
nicht die – kommende Macht. Er wusste, dass die Chinesen den New Yorker
Hafen gekauft hatten. Offenbar beschäftigte man sich in Hamburg mit derselben
Idee.
»Sie wollen den Hafen an China verkaufen.«
Die Worte saßen wie Peitschenhiebe. Selbst der
gewiefte Politiker konnte sein Erschrecken nicht verbergen, wie Lüder am Zucken
der Mundwinkel erkannte.
»Da holen Sie sehr weit aus«, sagte Montag vorsichtig.
»So würde ich es nicht formulieren. Gleichwohl ist es legitim, über bestimmte
Varianten einer Kooperation nachzudenken.«
Lüder ließ seinen Blick durch den im Empirestil
gehaltenen Raum gleiten und verharrte für einen Moment bei den eindrucksvollen
Holzschnitzereien an den Wänden sowie den Eckvitrinen mit filigranem Porzellan.
»Und über die denken Sie hier nach«, sagte Lüder.
»Weil er da«, dabei zeigte er auf Dr. Dr. Buurhove, »Kontakte zum Reich der
Mitte hat, darf er mit am Tisch sitzen. Und der Hundegger-Konzern ist ein
Pilotprojekt, selbst wenn dabei Know-how verkauft wird, das der
Waffenproduktion dient, und wir unter Umständen einen Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz
in Kauf nehmen.«
»Da muss ein Missverständnis vorliegen«, sagte Senator
Montag und sah nacheinander Professor Michaelis, die beiden Hundeggers sowie
Dr. Dr. Buurhove an.
»Das Ganze wäre fast legal«, schob Lüder nach. »Wenn
die Chinesen Eigentümer sind, kann ihnen niemand verwehren, mit Blaupausen und
dem in Stuttgart angesammelten Wissen im Kopf in ihre Heimat zurückzukehren und
dort das zu produzieren, was wir mit unserer Gesetzgebung gern verhindert oder
zumindest kontrolliert hätten.«
Professor Michaelis räusperte sich, als er zum Senator
gewandt sagte: »Ich fürchte, der Kriminalrat hat recht. Ich hätte diese
Bedenken auch angesprochen. Herr Hundegger senior und ich hatten uns im Vorfeld
darüber verständigt. Das ist auch der Grund, weshalb ich gebeten hatte, dass
Konsul Hundegger an diesem Gespräch teilnimmt.«
»Mein Vater ist aus dem Geschäft. Er hat nichts mehr
damit zu tun.« Dr. Gisbert Hundegger war deutlich die Erregung anzumerken.
»Nun mal ruhig, mein Junge«, erwiderte der Senior gelassen.
»Man hat dich aufs Eis geführt, und du hast es nicht bemerkt. Aber dafür sind
Eltern da, um ihren Kindern in schwierigen Situationen zur Seite zu stehen.«
»Du seniler alter Mann«, schimpfte Hundegger junior.
»Wie redest du mit mir? Willst du mich der absoluten Lächerlichkeit
preisgeben?«
»Das hast du selbst gemacht, Gisbert.«
Alle sahen Große Jäger an, der den Zeigefinger auf die
Lippen gelegt hatte und laut und vernehmlich »Pssst« zischte und dann sagte: »Wir wollen hier keinen Familienstreit.«
»Darf ich?«, fragte Professor Michaelis in Richtung
John Montag, und als der Senator unmerklich nickte, fuhr er fort: »Es ist wie
ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Wirtschaft ständig weiter wachsen muss.
Das scheint verwunderlich, da wir – zumindest in Deutschland – jedes Jahr
weniger werden. Und der Treibstoff des Wachstums ist nun einmal das Kapital.
Nun hat die Wirtschaftskrise den Finanzmarkt einbrechen lassen, und es gibt
kaum noch Geld für Investitionen. Das sehen Sie allein daran, dass es kaum noch
Fusionen unter den großen Unternehmen gibt, von Übernahmen ganz abgesehen. So
muss man sich glücklich schätzen, wenn es noch potenzielle Investitionspartner
gibt. Deshalb sitzen wir in diesem Kreis zusammen und überlegen, welche
Perspektiven sich uns eröffnen. Es sei Ihnen versichert, dass wir dabei
verantwortungsbewusst vorgehen und hanseatischer Tradition folgend allein das
Wohl dieser Stadt im Auge haben. Schanghai ist Hamburg schon seit
Menschengedenken partnerschaftlich verbunden. So war es eine natürliche
Konsequenz, auch auf wissenschaftlicher Ebene Kontakte zu knüpfen. Die aus
diesen Verbindungen resultierende Kenntnis der chinesischen Mentalität ist der
Grund, weshalb ich an dieser Runde teilnehme.« Der Professor nickte in
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