Der Tote vom Kliff
Marotte von mir ist, aber aus den Reaktionen der Leute lese ich viel
heraus.«
»Dann gute Fahrt.«
»Was gibt es sonst?«
Große Jäger blies förmlich ins Mikrophon. Zumindest
kam bei Lüder ein heftiges Rauschen und Knattern an. »Die Fahrt war wenig
erbaulich.«
Lüder hatte am Vorabend bemerkt, dass der
Oberkommissar sehr ungehalten wirkte, als Lüder ihn am Bahnhof Altona abgesetzt
hatte. Es waren nur zwei Stunden in der sauberen und komfortablen Nord-Ostsee-Bahn
bis Husum, aber die empfand Große Jäger als Zumutung. Selbst die beiden Dosen
Bier, die er sich als Reiseproviant eingesteckt hatte, hatten seine Stimmung
nicht aufhellen können.
»Und sonst?«
»Christoph zieht nach England.«
Lüder war erstaunt. »Was soll das heißen? Der hat doch
noch ein paar Jahre bis zur Pensionierung.«
»Schon. Aber er muss seine Wohnung räumen. Die Erben
seiner Vermieterin haben andere Pläne. Nun zieht er mit seiner Freundin
zusammen. Die beiden haben sich ein Haus in England gemietet.«
»Das begreife ich nicht.«
Große Jäger lachte. »England ist ein Ortsteil von
Nordstrand. Dort wollen die beiden sich niederlassen.«
»Kann Christoph sich von dort um das Problem des
konstant die Parkzeit überschreitenden BMW kümmern?«, stichelte Lüder.
»Das Thema ist gelöst.«
»Hat der Halter endlich ein Einsehen gehabt?«
»Nee. Irgendein schlechter Mensch hat am Fahrzeug ein
Schild angebracht: Zum Ausschlachten freigegeben. Das muss sich über Nacht
schlagartig in Husum und Umgebung herumgesprochen haben. Jetzt ist nur noch die
leere Karosserie da, die an den vier Ecken auf ein paar Ziegelsteinen
aufgebockt ist.«
Lüder lachte lauthals. »Ich möchte nicht die
Ermittlungen führen, weil ich dem Urheber nicht begegnen möchte.« Er wünschte
Große Jäger viel Erfolg, besorgte sich noch einen Kaffee bei Edith Beyer und
studierte gewohnheitsmäßig die Morgenpresse. Bis jetzt hatte er keine
Richtigstellung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, er hätte den Journalisten
Matthias Sommer und seinen Begleiter in den Tod gehetzt, gefunden. Ebenso hatte
er bemerkt, dass die Tür zu Nathusius’ ehemaligem Büro jetzt immer geschlossen
war, nachdem Dr. Starke dort eingezogen war. Lüder war nicht traurig, dass er
dem Kriminaldirektor seit dem Eklat nicht wieder begegnet war.
Er nahm sich noch einmal die Akten vor und studierte
sie aufmerksam, bevor er sich ins Auto setzte und Richtung Gelsenkirchen fuhr.
Jeder, der Richtung Süden fährt, kennt die
neuralgischen Punkte. Die mehrjährigen Wartungsarbeiten am Elbtunnel führten
regelmäßig zu zäh fließendem Verkehr. Und damit war man noch gut bedient.
Zwischen Hamburg und Osnabrück reihte sich eine Baustelle an die nächste. Er
hatte den Eindruck, dass dieses anhielt, bis er in Gelsenkirchen-Hassel die
Autobahn verließ. Er fuhr an der Zentrale von Veba Oel vorbei und wunderte
sich, dass auf der gegenüberliegenden Seite ein großes Feld lag. Solch ein
Anblick, dachte Lüder, passt nicht in das Vorurteil, das ein Fremder vom
Ruhrgebiet hat. Hinter der Kreuzung begann der Eppmannsweg, der von älteren
Mehrfamilienhäusern geprägt war und auf den ersten Blick einen bürgerlichen
Charme erkennen ließ. Lüder konnte sich gut vorstellen, dass die Menschen in
diesem Teil der Stadt in guter und langjähriger Nachbarschaft lebten. Jemand
wie Lothar Balzkowski passte in diese Umgebung.
Hinter den Mietshäusern versteckt verlief parallel der
Brinkmannsweg, von dem kleine Sackgassen abgingen. In einer dieser ruhigen
Straßen wohnte Balzkowski.
Auf dem Parkplatz vor dem Haus stand ein Wohnmobil. Lüder
warf einen Blick auf das Kennzeichen. GE – LB . Es könnte Balzkowski gehören.
Unter der Haustürklingel prangte ein buntes
Keramikschild. »Hier wohnen Lothar + Karin + Amelie + Yvonne Balzkowski«, stand
dort.
Ein melodischer Gong ertönte, und kurz darauf wurde
die Tür von einem Teenager mit einem seitlich über der Schulter hängenden
Pferdeschwanz geöffnet, der Lüder neugierig musterte.
»Hallo. Ich hätte gern Herrn Balzkowski gesprochen.«
»Der ist auf Arbeit«, antwortete die junge Dame.
»Wer ist da, Wonnchen?«, hörte Lüder eine weibliche
Stimme aus dem Hintergrund.
»Keine Ahnung. Ein Mann. Der will zu Papa.«
»Herrje«, schimpfte die Stimme, und dann tauchte eine
stämmige Frau mit rotblonden Haaren auf. Kleine Pausbäckchen mit roten Flecken,
die Lüder an eine Lebertranreklame erinnerten, ein gelber Pullover mit
hochgekrempelten Ärmeln und
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