Der Tote vom Strand - Roman
Außerdem hat dieser Polizeianwärter doch schon mit ihm gesprochen, also hat er sicher nichts sagen können.«
»Was ist eigentlich passiert?«
»Wie meinen Sie das?«
»Damals vor sechzehn Jahren. Was ist passiert?«
Sigrid Lijphart sah aufrichtig überrascht aus. »Das wissen Sie doch.«
»Ich weiß nur das, was auf der Wache angedeutet wurde«, log Moreno.
»Sie sind nicht von hier?«
»Maardam, wie gesagt.«
Sigrid Lijphart fischte eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Steckte sie in den Mund und gab sich so ungeschickt Feuer, dass Moreno wusste, dass sie es wohl kaum mit einer Gewohnheitsraucherin zu tun hatte.
»Er hatte etwas mit einer Sechzehnjährigen«, sagte sie nach dem ersten Zug. »Mit einer Schülerin.«
Moreno wartete.
»Er hat sie geschwängert und sie dann umgebracht. Mein Mann. Ich spreche von dem Menschen, mit dem ich verheiratet war und der Mikaelas Vater ist. Das müssen Sie sich mal vor Augen führen.«
»Entsetzlich«, sagte Moreno. »Das muss für Sie doch ein grauenhaftes Trauma sein.«
Sigrid Lijphart sah sie einige Sekunden lang abschätzend an.
»Ich hatte nur eine Möglichkeit«, sagte sie dann. »Die Tür zumachen und einen neuen Anfang versuchen. Das habe ich dann auch getan, mir war klar, dass ich versuchen musste, mir ein neues Leben aufzubauen ... für mich und für meine Tochter. Wenn wir nicht untergehen wollten. Es gibt Dinge, die man nicht verarbeiten kann. Die man einfach auf sich beruhen lassen muss. Ich hoffe, Sie verstehen, wovon ich da rede?«
Moreno nickte vage. Überlegte, ob das der Fall war. Ob sie verstand. Ob sie dieser schwer geprüften Frau darin zustimmte, dass bestimmte Dinge nicht verarbeitet werden konnten — und sollten. Nicht verstanden oder vergeben. Sondern nur vergessen.
Vielleicht, dachte sie. Vielleicht auch nicht. Man musste sich sicher die Umstände klar vor Augen halten, ehe man eine solche Entscheidung traf. Alle Umstände.
»Weshalb haben Sie Ihrer Tochter alles erzählt?«, fragte sie dann.
»Weil ich musste«, erwiderte Sigrid Lijphart sofort. »Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass es eines Tages so weit sein würde. Immer habe ich das gewusst. Es ließ sich doch nicht vermeiden, und deshalb habe ich mich für dieses Datum entschieden. Ihren achtzehnten Geburtstag. Es wird leichter, wenn man für solche unangenehmen Dinge einen Zeitpunkt festlegt ... Ich weiß nicht, ob Sie sich das auch schon einmal überlegt haben.«
Moreno war nicht sicher, ob sie diese Logik begriff, aber Sigrid Lijphart schien von der Weisheit ihrer Behauptungen überzeugt zu sein.
»Und dieses Mädchen«, fragte Moreno. »Die von damals ...«
»Eine kleine Nutte«, fiel Sigrid Lijphart ihr voller Überzeugung ins Wort. »Manche scheinen einfach dazu geboren zu sein, ich habe keine Vorurteile, ich bin nur realistisch. Arnold war nicht ihr erster Liebhaber, das steht jedenfalls fest. Nein, ich will darüber nicht sprechen, Sie müssen schon verzeihen.«
»Wie hieß sie?«, fragte Moreno.
»Winnie«, sagte Sigrid Lijphart und verzog angeekelt den Mund. »Winnie Maas. Er ist danach verrückt geworden, mein Mann, das wissen Sie doch sicher? Wurde gleich danach verrückt.«
»Das habe ich verstanden, als ich mit Vrommel gesprochen habe«, sagte Moreno und warf einen Blick auf die Uhr. »Um Himmels willen, ich bin schon viel zu spät dran. Verzeihen Sie, wenn ich mich aufgedrängt habe, aber wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, dann können Sie mich jederzeit erreichen... Ich habe ein Handy. Ich kann Sie wirklich gut verstehen, und ich hoffe, dass Mikaela sich bald wieder einfindet.«
Sie reichte der anderen ihre Karte, und Sigrid Lijphart musterte sie eine Weile, ehe sie sie in die Handtasche steckte.
»Danke«, sagte sie. »Ich fahre morgen auf jeden Fall nach Hause. Mehr als zwei Nächte in dieser Stadt halte ich nicht durch... Ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen, es hat gut getan, mit Ihnen zu sprechen.«
»Keine Ursache«, beteuerte Moreno und stand auf. »Jetzt muss ich aber los. Mein Verlobter wartet schon.«
Der Verlobte (Liebhaber? Freund? Er?) saß nicht wie verabredet im Donnerspark und wartete auf sie, sondern lag auf dem Rücken unter einer Rosskastanie, hatte den Kopf gegen eine Wurzel gelehnt und versuchte, Eis zu essen, ohne sein Gesicht zu verschmieren.
»Du kommst spät«, sagte er, als Moreno sich neben ihn fallen ließ. »Aber das macht nichts. Das ist das erste Privileg der Frau, und ich liebe dich trotzdem
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