Der Tote vom Strand - Roman
wenn ja, was?
Und diese alte Geschichte? Ihr Vater, der Lehrer Arnold Maager, hatte ein Verhältnis mit einer Schülerin. Schwängerte sie. Brachte sie um. Verlor darüber den Verstand.
War es so gewesen? So einfach?
Es war natürlich eine schreckliche Geschichte, aber Moreno kam sie doch auf irgendeine Weise zu klinisch vor. Klinisch und fertig verpackt. Ins Krankenhaus mit dem Kerl, weg mit dem Mädel. Für sechzehn Jahre den Deckel drauf, und dann ... tja, was dann?
Trotzdem war es keine Neugier, was sie antrieb, das wusste sie. Diese Geschichte hatte ihren Reiz, das würde Ewa Moreno als Erste zugeben, aber sie hatte auch noch andere Beweggründe.
Andere Gründe, die dafür sorgten, dass sie den Faden nicht loslassen wollte. Dass sie nicht einfach den lieben Gott einen guten Mann sein lassen konnte.
Ethische? Ja, die auch. Nur während der Ferien haben wir Zeit, moralisch zu sein, hatte irgendwann einmal jemand gesagt, sie wusste nicht mehr, wer. Vermutlich Reinhart oder Van Veeteren ... nein, der Kommissar konnte es wohl kaum gewesen sein —, denn wenn jemand auf den moralischen Aspekt pochte, dann ja wohl er. Selbst unter den schwierigsten Bedingungen. Hatte er deshalb vorzeitig seinen Hut genommen? Hatte er deshalb die Nase voll gehabt, fragte sie sich plötzlich.
Auf jeden Fall hatte diese Überlegung einiges für sich. Die über Freizeit und Ethik. Denn wenn wir in unserem täglichen
Laufrad sitzen, dachte Moreno, dann eilen wir unangefochten an blinden Bettlern (oder verängstigten Kindern oder blaugeschlagenen Frauen) en masse vorüber. Aber wenn wir sie entdecken, während wir langsam über einen Meeresstrand spazieren ... tja, dann sieht die Sache schon ganz anders aus.
Moral braucht Zeit.
Und jetzt hatte sie Zeit. Zeit, sich an das weinende Mädchen aus dem Zug zu erinnern. Zeit, um sich über sie und ihre Geschichte und ihre besorgte Mutter Gedanken zu machen.
Und über den Lehrer Maager.
Zeit, um an einem sonnigen Vormittag wie diesem einen Umweg zu machen und der Sache eine Stunde zu widmen — während Mikael Bau mit den Handwerkern über irgendeine Reparatur verhandelte, die in Tschandala nötig war ... es ging dabei wohl um die Regenrinne.
Sie bog in den Goopsweg ab und machte sich auf die Suche nach der Hausnummer sechsundzwanzig ... da war sie. Ein dreistöckiges Mietshaus. Trister Siebziger-Jahre-Stil aus grauem Klinker und feuchtfleckigem Beton, aber auch solche Häuser musste es in dieser leicht heruntergekommenen Idylle wohl geben dürfen.
Journalistin, prägte sie sich ein. Darf nicht vergessen, mich wie eine Journalistin zu verhalten. Freundlich und zuvorkommend zu sein und mir eifrig Notizen zu machen. Ein besserer Vorwand, um mit einer Frau über deren ermordete Tochter zu sprechen, war ihr nicht eingefallen.
Und irgendeine Vollmacht von Polizeichef Vrommel wollte sie sich nicht erteilen lassen. Bis auf weiteres jedenfalls nicht.
Sie überquerte die Straße. Betrat den Hinterhof und fand sofort den richtigen Aufgang. Ging die Treppe hoch in den dritten Stock. Blieb eine halbe Minute vor der Tür stehen, um sich zu sammeln, dann drückte sie auf den Klingelknopf.
Keine Reaktion.
Sie wartete einen Moment und klingelte dann noch einmal. Legte vorsichtig ein Ohr gegen die Tür und horchte.
Nichts zu hören. Stumm wie ein Grab.
Na dann, dachte Kriminalkommissarin Ewa Moreno. Einen ehrlichen Versuch habe ich immerhin gemacht.
Aber als sie wieder in den Sonnenschein hinaustrat, wollte die Moral ihr noch immer keine Ruhe gönnen. Es war, als könne sie die junge Frau Lijphart nicht loslassen. Jedenfalls noch nicht ganz und gar.
Wenn alle Bürger und Bürgerinnen ein solches Verantwortungsgefühl besäßen, dachte sie und wäre fast über eine schwarze Katze gestolpert, die aus einem Loch in einem Bretterzaun geschossen kam, was wäre das für eine schöne Welt!
Dann lachte sie so laut auf, dass die Katze kehrtmachte und ängstlich wieder hinter ihrem Zaun verschwand.
Sigrid Lijphart erreichte gerade noch den Zug, der den Bahnhof von Lejnice um 17.03 Uhr verließ. Er setzte sich in Bewegung, als sie sich in dem halb leeren Wagen auf einen Fensterplatz sinken ließ, und fast sofort hatte sie das Gefühl, ihre Tochter im Stich gelassen zu haben.
Sie steckte sich eine Zigarette an, um ihre Gewissensbisse zu beschwichtigen. Schaute sich vorsichtig um, dann leerte sie die letzten Tropfen aus dem Flachmann, den sie in ihrer Handtasche aufbewahrte.
Was aber keine
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