Der Tote vom Strand - Roman
Moreno und biss die Zähne zusammen, um keine übereilte Bemerkung zu machen. Wirklich große Klasse. Da darf ein depressiver, seelisch kranker Mensch zwei Tage durch die Gegend stromern, dann erst wird eine Besprechung angesetzt, auf der beschlossen wird, die Behörden zu informieren. Vielleicht sollten wir uns an die Routine halten, wie die Zuständigen in solchen Fällen immer sagen.
»Ein Kollege hat in der vorigen Woche mit Herrn Maager gesprochen. Ist Ihnen das bekannt?«
Frau Walker nickte.
»Ja, das weiß ich. Am Mittwoch. Und einige Tage vorher war seine Tochter hier. Kann es da einen Zusammenhang geben, was meinen Sie? Sonst ist er wirklich nicht so umschwärmt.«
Moreno ignorierte diese Spekulationen.
»Sie sagen, dass Herr Maager am Samstagnachmittag verschwunden ist?«
»Ja. Er hat wie immer gegen halb eins zu Mittag gegessen ... es muss also irgendwann danach gewesen sein.«
»Haben Sie mit dem ganzen Personal gesprochen?«
»Und auch mit den Patienten. Nach zwei Uhr hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Und niemand hat gesehen, wie er das Gelände verlassen hat?«
»Nein.«
Moreno dachte kurz nach.
»Was hat er mitgenommen?«
»Wie bitte?«
»Kleidung? Eine Tasche? Oder ist er mit leeren Händen losgezogen?«
Frau Walker hatte diesen Aspekt offenbar nicht bedacht, denn nun eilte sie wieder hinter ihrem Schreibtisch hervor.
»Wir werden das augenblicklich überprüfen. Es gibt eine Liste über alles, was die Hausbewohner auf ihren Zimmern haben ... über das meiste jedenfalls. Kommen Sie mit!«
»Na gut«, seufzte Moreno.
Eine halbe Stunde später wussten sie schon mehr. Offenbar war Arnold Maager nicht überstürzt aufgebrochen. Nachdem Pfleger und Ärzte sich miteinander beraten hatten, wussten sie, dass eine kleine Einkaufstasche und zwei Garnituren Wäsche aus seinem Schrank fehlten. Hemden, Socken und Unterhosen.
Andere Hinweise konnten sie jedoch nicht finden, weder in Maagers Zimmer noch anderswo, weshalb Moreno sich verabschiedete und zu ihrem Auto zurückkehrte.
Muss sofort mit Vegesack reden, dachte sie. Muss wissen, was er bei diesem Gespräch von sich gegeben hat.
Maager war nicht sonderlich mitteilsam gewesen, das hatte Vegesack ja schon klargestellt. Aber umso größer war das Risiko, nahm Moreno an, dass der Polizeianwärter ein wenig zu viel gesagt hatte.
Was Mikaela Lijphart anging, zum Beispiel. Dass sie ein wenig verschwunden war, zum Beispiel.
Sie ließ sich hinter das Lenkrad sinken. Kurbelte das Seitenfenster herunter und drehte den Zündschlüssel.
Nichts.
Der Motor blieb stumm.
Sie drehte den Schlüssel noch einmal um. Und noch einmal. Nicht ein Mucks war zu hören.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie. Das kann nicht wahr sein. Nicht gerade jetzt.
Wie zum Teufel?, dachte sie dann. Wie, zum Teufel, kann man ein volles Jahrzehnt nach Fall der Mauer in einer alten Zonenkarre durch die Gegend gurken? In einer verdammten Konservendose, die ins Museum gehört?
»Lieber Verlobter«, fauchte sie, als sie ihre Tasche nach ihrem Handy durchwühlte. »Jetzt hast du schlechte Karten. Verdammt schlechte!«
Es war der 19. Juli, und die Sonne knallte von einem immer strahlenderen Himmel. Polizeiinspektorin Ewa Morenos Urlaub war soeben in die zweite Woche gegangen. Sie befand sich auf einem Parkplatz vor einer einsam gelegenen psychiatrischen
Klinik zwei Kilometer vom Meer entfernt, hatte gerade ihre Regel bekommen, und Mikael Baus verdammter Trabi wollte nicht anspringen.
Die erste freie Frau der Weltgeschichte? Hatte sie sich nicht so noch vor einigen Tagen ins Koordinatenkreuz des Lebens platziert?
Ha!
22
»Die Erde ist rund«, sagte Henning Keeswarden, sechs Jahre und fünf Monate alt.
»Verflixt rund«, stimmte Fingal Wielki zu, er war erst vier Jahre und neun Monate und ein eifriger Vertreter von allem, was neu und modern wirkte. Vor allem, wenn es von seinem verehrten Vetter vorgebracht wurde.
»Auf der anderen Seite gibt es Menschen«, erklärte der junge Keeswarden. »Kapierst du?«
Fingal Wielki nickte eifrig. Natürlich kapierte er.
»Wenn wir ein tiefes, tiefes Loch graben, ganz gerade in den Boden hinein, dann kommen wir auf der anderen Seite wieder raus.«
»Auf der anderen Seite«, bestätigte Fingal.
»Man muss verdammt tief graben, aber dann klettert man einfach ins Loch und kommt auf der anderen Seite wieder raus. Bei den Chinesen.«
»Den Chinesen«, sagte Fingal. Er konnte sich nicht so recht vorstellen, was das wohl für
Weitere Kostenlose Bücher