Der Tote vom Strand - Roman
Schulter zu hängen und ein bisschen vor sich hinzujammern.
»Sagen Sie ihm, dass er zur Eisenbahnbrücke kommen soll.«
»Nichts da. Sag, wer du bist und warum du mitten in der Nacht anrufst.«
Arnold kam zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und schaute sie fragend an. Sie erwiderte seinen Blick, und im selben Moment beschloss die Anruferin, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Ich heiße Winnie und war mit ihm zusammen. Ich bin schwanger.«
Es war seltsam, dass Arnold und Mikaela so dicht in ihrer Nähe waren, als diese Worte sich in ihr Bewusstsein bohrten. Das dachte sie sofort und dann später immer wieder. Dass sie in diesem Moment auf ihrer Hälfte des Doppelbettes saßen. Vater, Mutter und Kind. Die heilige Familie. Verdammt seltsam, denn der Abgrund, der sich plötzlich zwischen ihnen auftat, war so tief und so breit, dass sie wusste, dass sie ihn niemals überbrücken könnten. Sie würden nicht einmal den Versuch machen, es wäre aussichtslos. Ganz plötzlich wusste sie das.
Und wie seltsam, dass man für solche Überlegungen nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte. Sie reichte ihm den Hörer und nahm ihm seine Tochter weg.
»Für dich.«
Aber ihre Ruhe war von kurzer Dauer. Als Arnold auflegte und neben dem Bett zu einem Häufchen Elend zusammengesackt war, legte sie Mikaela auf die Kissen und fing an, auf ihn einzuschlagen.
Mit geballten Fäusten, so fest sie konnte, schlug sie auf Kopf und Schultern ein. Er zeigte keinerlei Reaktion. Wehrte sich nicht, senkte nur ein wenig den Kopf, und bald waren ihre Arme müde. Mikaela wurde wieder wach, weinte aber nicht mehr. Sie setzte sich auf und glotzte. Mit großen blanken Augen und dem Schnuller im Mund.
Sie verließ das Schlafzimmer, lief ins Badezimmer und schloss sich dort ein. Spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, alle irrwitzigen Gedanken auszuschalten, die ihr Gehirn bombardierten.
Zuerst starrte sie im Spiegel ihr Gesicht an, dann betrachtete sie die vielen hundert Gegenstände auf dem Beckenrand und in den Regalen, diese Tuben und Dosen und Seifen und Scheren und Zahnbürsten und Pflaster, die das Alltäglichste von allem Alltäglichen in ihrem Leben ausmachten, die ihr jetzt aber
plötzlich neu und fremd vorkamen, und die sich mit bedrohlichen und beängstigenden Vorzeichen zu umgeben schienen, die sie nicht deuten konnte. Ich werde verrückt, dachte sie. Ich werde wahnsinnig, in diesem Moment, in diesem verdammten Badezimmer, in diesem verdammten Augenblick ... es geht nur noch um Sekunden.
Sie fuhr sich mit dem Handtuch übers Gesicht und öffnete die Tür.
»In einer Viertelstunde auf der Eisenbahnbrücke, ja?«
Er gab keine Antwort. Nichts war zu hören, weder von ihm noch von Mikaela. Nur Schweigen strömte aus dem Schlafzimmer. Sie holte Jeans und einen Pullover. Die blauen Stoffschuhe. War innerhalb einer halben Minute angezogen und aufbruchbereit.
Bis dann.
Das dachte sie, sagte es aber nicht.
»Warte.«
Sie wartete nicht. Sie öffnete die Haustür und ging hinaus. Zog die Tür hinter sich ins Schloss und lief auf die Straße hinaus. Die Nachtluft war kühl und erfrischend.
Hier konnte sie schnaufen.
Als er Mikaela verließ, wusste er nicht genau, ob sie schlief. Aber sie lag in ihrem Bett, hatte den Schnuller im Mund und atmete regelmäßig. Vielleicht würde sie ja doch einige Stunden ruhig bleiben.
Er schloss die Haustür, so leise er konnte. Spielte für einen Moment mit dem Gedanken, das Fahrrad zu nehmen, entschied sich dann aber anders. Er würde ja doch nicht als Erster auf der Brücke sein.
Er würde acht oder zehn Minuten brauchen, und vielleicht konnte er die nutzen. Wollte er überhaupt als Erster eintreffen? Sollte er diese Zeit nicht dazu nutzen, um irgendeine Entscheidung zu treffen? Um zu einem Entschluss zu gelangen?
Oder war alles bereits entschieden?
War nicht alles bereits festgelegt worden, als er vor einem Monat die Grenze überschritten hatte? Schon damals. Vor sechs Wochen, um es genau zu nehmen. War nicht damals alles nur noch eine langsam tickende Zeitbombe gewesen?
Hatte er sich denn auch nur für einen Moment etwas anderes eingebildet? Dass er ungeschoren davonkommen würde? Dass er nicht dafür bezahlen müsste?
Er merkte, dass er ungewöhnlich schnell an der langen, dunklen Sammersgraacht vorbeilief. Kein Mensch war zu sehen, keine Katze unterwegs.
Dann bog er nach rechts in die Dorffs-Allee ein und ging dann durch Gimsweg und Hagenstraat. Vorbei an der
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