Der Tote vom Strand - Roman
wies alles hin.
Der Leichnam gehörte einem Mann, der nach der ersten ärztlichen Einschätzung zwischen dreißig und vierzig sein mochte.
Er hatte vermutlich etwa eine Woche im Sand gelegen. Plus minus zwei Tage, es war schwer, in einem so frühen Stadium genauere Auskünfte zu geben.
Er war mit einem scharfen Gegenstand getötet worden, der sein Auge durchbohrt hatte. Das linke Auge. Sollte eigentlich sofort tot gewesen sein. Oder jedenfalls nach wenigen Sekunden.
Vermutlich war er an der Stelle ermordet worden, wo er dann begraben worden war. Und wo sie ihn gefunden hatten.
Zwei kleine Jungs hatten ihn entdeckt, war das nicht schrecklich?
Da musste Moreno ihm zustimmen.
»Das wird ihnen sicher ihr Leben lang Probleme bereiten«, sagte Struntze.
»Die sehen jede Woche hundertzwanzig Morde im Fernsehen«, erwiderte Moreno. »Und die Zeit heilt durchaus die eine oder andere Wunde. Aber wer? Wer war er? Der Tote.«
»Das wissen wir noch nicht«, erklärte Struntze. »Er trug Jeans und ein kurzärmeliges Baumwollhemd, hatte aber keine Papiere bei sich. Kein Geld und auch sonst nur leere Taschen. Etwa einsfünfundsiebzig groß. Dunkelbraunes Haar. Ziemlich kräftig. Fünfunddreißig plus minus fünf, wie gesagt.«
»Die Waffe?«, fragte Moreno.
»Keine Ahnung. Etwas Spitzes. Hat sich durch sein Auge und dann ins Gehirn gebohrt. Ist bis jetzt nicht gefunden worden.«
Jemand hatte vorgeschlagen, es könne sich um einen Zeltpflock handeln. Von der dreieckigen, winkligen Sorte. Oder um eine Schere.
Ein Zeltpflock, überlegte Moreno. Dann konnte es kaum ein vorsätzlicher Mord gewesen sein.
»Wissen Sie, ob sie etwas gefunden haben«, fragte sie schließlich und zeigte auf die umherkriechenden Techniker.
Struntze streichelte seinen Hund und gönnte sich ein bitteres Lachen.
»Sand«, sagte er. »Verdammt viel Sand.«
Um kurz nach vier überließ Moreno Wachtmeister Struntze und seinen Hund King ihrem Schicksal. Nach kurzem Überlegen beschloss sie, zu Fuß am Strand entlang nach Port Hagen zurückzugehen. Es war eine Strecke von mindestens sieben oder acht Kilometern, für die sie sicher zwei Stunden brauchen würde, aber sie hatte ja schon festgestellt, dass sie Bewegung brauchte. Und die wollte sie sich nun verschaffen.
Außerdem musste sie nachdenken. Über Mikael Bau und alles andere. Mit sich ins Reine kommen. Über ihre freiwillige Einmischung in die Lijphart-Maager-Geschichte zum Beispiel. Falls das überhaupt eine Geschichte war. Auf jeden Fall war ein langer Spaziergang am Meer besser geeignet, Ordnung in ein Gedankenwirrwarr zu bringen, als die meisten anderen Methoden.
Auch das hatte Van Veeteren immer gesagt.
Wenn man kein Auto hat, mit dem man durch die Gegend fahren und nachdenken kann, kann man es immer mit dem Meer versuchen. Falls gerade eins in der Nähe liegt.
Vielleicht war es an diesem Tag ganz besonders heiß, aber Scheiß drauf, dachte sie. Sie wanderte zur Ebbegrenze hinüber, stopfte ihre Sandalen in ihren Rucksack und ging dann barfuß über den feuchten festen Sand, der ihr angenehm eben und kühl vorkam. Aber er hatte ja noch vor weniger als einer Stunde den Meeresboden gebildet. Wenn sie auch den Rest ihres Körpers abkühlen wollte, dann brauchte sie nur ein wenig weiter hinauszugehen. Ein wenig Salzwasser könnte ihrem dünnen, verblichenen Baumwollkleid, das sie seit zehn Jahren oder mehr besaß, auch nicht mehr schaden. Das nun wirklich nicht.
Vor ihr lag der lange Sandstrand. Unveränderliches Meer, unveränderliche Dünenlandschaft. Himmel, Meer und Land. Warum bin ich diese Strecke noch nie gegangen?, fragte sie sich. Hätte ich tun sollen!
Dann schaltete sie ihren Denkapparat ein. Fing mit dem ersten Thema an, das sich einstellte. Mikael Bau.
Warum ist es so gelaufen?, fragte sie sich ganz offen und ehrlich.
Es hatte doch so gut angefangen. Er hatte behauptet, sie zu lieben, und sie war vor wenigen Tagen fast schon bereit gewesen, mit ihm zusammenzuziehen. Warum also?
Es gab keine klare Antwort, wie ihr bald aufging. Auf jeden Fall keine eindeutige, aber wenn sie nun schon zwei Stunden am Wasser entlangstapfen würde, dann könnte sie es sich doch leisten, eine Weile über diese Frage nachzudenken.
Hatte sie ihn schon satt? Konnte es so einfach sein? War diese alte Geschichte wirklich des Pudels Kern?
War sie überhaupt dazu bereit, ihr Leben mit einem anderen Menschen zu teilen — wer immer das sein mochte.
Ja, war sie das? Zwischen ihr und Mikael Bau
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