Der Tote vom Strand - Roman
Maas
Vera Sauger
Sie ließ ihren Gedanken zwei Minuten freien Lauf, dann setzte sie hinter Mikaela Lijphart und Arnold Maager ein Fragezeichen und hinter Tim Van Rippe ein Kreuz. Die beiden letzten Namen wurden mit keinerlei Zeichen versehen.
Blendende Systematik, Holmes, stellte sie dann fest und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Trank einen Schluck von dem Kaffee, den die Wirtin widerwillig und gegen teures Geld herausgerückt hatte. Weiter!
Was weiß ich? Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen
Namen? Zwischen allen Namen? Zwischen einigen davon? Und wie sieht der aus?
Vera Sauger hatte natürlich nicht sehr viel mit den anderen zu tun — mit diesen toten oder verschwundenen Menschen —, sie war einfach nur ein Bindeglied. Eine mutmaßliche Gewährsfrau, kein Mysterium. Sie brauchte eine Sonderbehandlung.
Plötzlich wusste sie auch, woher sie den Namen kannte. Sie hatte ihn in einem der Vernehmungsprotokolle gelesen, die Vegesack ihr zur Verfügung gestellt hatte, da war sie sich fast sicher. Doch, es gab keinen Zweifel. In welchem Zusammenhang, war ihr nicht mehr klar, aber Vera Sauger war dort aufgetaucht, davon war sie plötzlich felsenfest überzeugt, obwohl ihre Schläfen bisher noch so gut wie unberieben waren.
Im Grunde war das ja auch nicht weiter überraschend. Sigrid Maas hatte Mikaela Lijphart an Vera Sauger verwiesen, und wenn die im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1983 vernommen worden war, dann bewies das ja nur, dass es sich um eine Person handelte, die Winnie auf irgendeine Weise nahe gestanden hatte.
Und dass Sigrid Maas die Wahrheit gesagt hatte, zumindest in diesem Zusammenhang.
Sie sah sich noch einmal die ersten drei Namen an. Ein Toter, zwei Verschwundene.
Was mit Mikaela Lijphart passiert war, war weiterhin so unbegreiflich wie eh und je. Ehe sie sich über Mikaela den Kopf zerbrach und neue Spekulationen anstellte, wollte sie ihre Aufmerksamkeit deshalb lieber auf den Vater richten. Welche Szenarien gab es, die mit ihm zu tun haben könnten?
Nur zwei, so viel sie sehen konnte.
Entweder hatte Maager das Sidonis aus eigenem Willen verlassen — aus dem bisschen Willen, das er möglicherweise besaß. Oder es verbargen sich andere Kräfte hinter seinem Verschwinden. Wollte irgendwer ihn aus dem Weg räumen?
Warum? Warum um alles in der Welt sollte jemand sich durch Arnold Maagers Existenz bedroht fühlen?
Auf diese Frage gab es nur eine Antwort. Es gab einen Zusammenhang mit den Ereignissen von damals. Maager konnte durchaus über Informationen verfügen, die gefährlich werden könnten für jemanden, der ... jemanden, der, ja, was denn bloß?
Jemanden, der einen Finger mit im Spiel gehabt hatte, vermutlich sogar mehr als nur einen Finger.
Halt, dachte Moreno. Nichts überstürzen. Das sind doch pure Spekulationen. Wäre es nicht, alles in allem betrachtet, um einiges wahrscheinlicher, dass Maager aus freien Stücken durchgebrannt ist? Er hatte doch eine Tasche gepackt. In dem Fall wären seine Beweggründe natürlich ebenso mysteriös wie alles andere, aber dass es irgendeinen Zusammenhang mit seiner Tochter geben musste, lag auf der Hand. In seinem Leben gab es doch sonst nichts, was solche Entwicklungen auslösen könnte.
Blödsinn, dachte sie dann. Was weiß ich davon, wie es in Arnold Maager aussieht? Und über die Beweggründe anderer Menschen? Rein gar nichts.
Aber trotzdem. Sie spürte, dass es so sein konnte. Dass er sich einfach auf den Weg gemacht hatte, vielleicht aus purer Verzweiflung, um nach seiner Tochter zu suchen ... wie ein jüngerer und wahnsinniger König Lear auf der Suche nach seiner Cordelia. Das wäre doch nicht unwahrscheinlich? Sie trank eine halbe Tasse Kaffee und rieb sich die Schläfen. Ihre Haarwurzeln schmerzten, aber schaden tat ihnen die Massage mit Sicherheit nicht.
Als sich keine weiteren Fragen oder gescheite Gedanken mehr einstellen wollten, blätterte sie in ihrem Block weiter und notierte dann der Reihe nach ihre Schlussfolgerungen. Dazu brauchte sie eine Weile, und es wäre vielleicht übertrieben, hier von Schlussfolgerungen zu sprechen. Es war eher eine Art Therapie. Gehirngymnastik für eine Kriminalinspektorin, deren Verstand beeinträchtigt ist, dachte sie. Während sie noch über alles nachdachte, klopften die ersten schweren Regentropfen
an das Fenster, und im Nachbarzimmer widmete ein junges Paar sich der Liebe.
Moreno hörte ein oder zwei Minuten zu. Dem Regen und der Liebe. Ein jeglich Ding hat seine Zeit,
Weitere Kostenlose Bücher