Der Tote vom Strand - Roman
aufgefallen. Diese Frau hier schien keine zu sein, die sich Ausreden auftischen ließ, und wer diesen Fehler gleich zum Einstieg machte, würde ihn nur mit Mühe wieder ausbügeln können.
»Ewa Moreno, Kriminalinspektorin«, sagte sie deshalb. »Ich habe ein etwas ausgefallenes Anliegen. Ich würde gern mit jemandem hier sprechen, der über den Fall Winnie Maas aus dem Jahr 1983 informiert ist ... und einen Moment Zeit hat.«
Die Frau hob eine Augenbraue und saugte die Wangen ein, was für ihre schnelle Auffassungsgabe sprach.
»Dann sind Sie hier an der richtigen Adresse«, meinte sie dann. »Selma Perhovens. Angenehm.«
Sie streckte die Hand über den Tresen, und Moreno griff danach.
»Polizei, haben Sie gesagt?«
»Im Urlaub«, erklärte Moreno. »Nicht im Dienst.«
»Bizarr«, sagte Selma Perhovens. »Aber ich könnte auch ein paar kurze Auskünfte gebrauchen. Wenn Sie mir da entgegenkommen könnten, könnten wir vielleicht von christlichem Teilen reden.«
»Warum nicht?«, fragte Moreno. »Worum geht es denn?«
»Hrrm. Mein Chef hat mir aufgetragen, den Namen einer bestimmten Leiche herauszufinden, die am Montag am Strand ausgegraben wurde. Wissen Sie den zufällig?«
»Aber sicher«, sagte Moreno.
Selma Perhovens Kinn klappte für einen Moment nach unten, sie konnte es aber gerade noch festhalten.
»Ja, du meine Güte ...«
»Ich weiß den Namen«, erklärte Moreno. »Ich bin zwar inkognito hier, aber man schnappt ja trotzdem so dies und jenes auf.«
»Ich muss schon sagen«, sagte Selma Perhovens und lief um den Tresen. »Ich glaube, wir machen hier erst mal dicht.«
Sie zog das Rollo vor das Milchglasfenster und schloss die Tür ab. Dann packte sie Moreno am Oberarm und zog sie in das hintere Zimmer.
»Bitte, setzen Sie sich.«
Moreno schob einen Stapel Zeitungen, eine leere Coladose und eine halb volle Bonbontüte von dem ihr angewiesenen Stuhl und setzte sich. Selma Perhovens nahm ihr gegenüber Platz und stützte den Kopf in die Hände.
»Woher soll ich wissen, dass Sie sich nicht einfach als Bulle ausgeben?«
Moreno zeigte ihren Dienstausweis vor.
»Na gut. Verzeihen Sie mein Misstrauen meinen Mitmenschen gegenüber. Berufskrankheit. Sollte ein wenig mehr auf meine Intuition hören.«
Sie lächelte. Moreno lächelte auch.
»Gutgläubigkeit ist heutzutage keine Tugend mehr«, sagte sie. »Wenn ich zuerst mein Anliegen vorbringen darf, dann erfährst du danach den Namen. In Ordnung?«
»Fair deal«, sagte Selma Perhovens. »Kaffee?«
»Gern«, sagte Moreno.
Sie fing mit dem Anfang an. Mit der Bahnfahrt und ihrer Begegnung mit der weinenden Mikaela Lijphart, danach erzählte
sie weiter, bis sie beim zweifelhaften Analyseversuch angelangt war, den sie am Vorabend in ihrem Pensionszimmer vorgenommen hatte. Sie ließ nur Franz Lampe-Leermann und Mikael Bau aus, da die mit dem Fall wohl kaum etwas zu tun hatten, und miteinander schon gar nichts, und für die ganze Darstellung brauchte sie weniger als eine Viertelstunde. Selma Perhovens fiel ihr kein einziges Mal ins Wort, sondern trank derweil zweieinhalb Tassen Kaffee und kritzelte vier Seiten in ihrem Notizblock voll.
»Meine Fresse«, sagte sie, als Moreno fertig war. »Ja, ich glaube, du bist hier an die Richtige geraten, wenn ich das mal so sagen darf. Der Prozess gegen Maager ist sozusagen in meine Lehrjahre gefallen ... ich war damals erst neunzehn, habe aber die ganze Woche im Gerichtssaal gesessen. Schreiben durfte ich natürlich nichts darüber, das hat Wicker selber übernommen, aber er hat mich jeden Tag ein Referat verfassen lassen, zur Übung, dieser Sklaventreiber. Und deshalb kann ich mich sehr gut daran erinnern, es war nicht gerade eine lustige Geschichte.«
»Das habe ich auch schon begriffen«, sagte Moreno.
»Außerdem ...«, sagte Selma Perhovens und schien nicht so recht zu wissen, wie es weitergehen sollte. »Außerdem hatte ich bei der ganzen Sache meine Zweifel, das muss ich schon sagen, aber die Verhandlung lief wie geschmiert, und ich war damals ja auch noch ein ziemlicher Grünschnabel.«
Moreno merkte, wie etwas in ihr sich in Bewegung setzte.
»Zweifel? Was hattest du für Zweifel?«
»Keine klaren, fürchte ich, aber mir kam das alles vor wie Staffage. Wie Theater. Wie ein Stück über eine Gerichtsverhandlung, das schon lange vor dem Start fertiggeschrieben war. Das Mädchen war tot, der Mörder war mit der Leiche im Schoß gefunden worden. Er war ohnehin verrückt, und in den Augen der Leute
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