Der Tote vom Strand - Roman
Staatsmächte in dieser Stadt unheilbar zerstört. Zumindest, solange der Polizeichef Vrommel hieß.
Namen waren bei der Aktion nicht gefunden worden, da Wicker sie noch rechtzeitig hatte löschen können, aber die bloße
Vorstellung, die Ordnungsmacht könne eine so grundlegende Bedingung der Pressefreiheit ignorieren, reichte, um ohnmächtige Schauer über Redakteur Wickers Rückgrat zu jagen. Noch immer.
Und jetzt saß die Staatsgewalt schon wieder am längeren Hebel.
»Wir wissen natürlich, wer das Opfer ist«, sagte der Polizeichef.
»Bravo«, sagte Wicker.
»Aber leider darf ich den Namen nicht nennen.«
»Warum nicht?«
»Weil es uns noch nicht gelungen ist, die Angehörigen zu informieren.«
»Die Massenmedien sind von einer gewissen Durchschlagskraft«, sagte Wicker. »Falls mit Ihren Telefonen etwas nicht stimmt. Und wir verfügen außerdem über eine gewisse Vernunft.«
»Kann schon sein«, sagte Vrommel. »Aber an unseren Kommunikationsmitteln ist wirklich nichts auszusetzen. Ich benutze im Moment zum Beispiel ein Telefon, obwohl ich mich eigentlich wichtigeren Aufgaben widmen müsste. Aber einen Namen bekommst du trotzdem nicht.«
»Den kriege ich garantiert auch so heraus.«
»In dem Fall verbiete ich dir, ihn zu veröffentlichen.«
»Das verbietest du mir? Seit wann gibt es hier in der Stadt Pressezensur? Nicht, dass es mich überraschen würde, aber offenbar habe ich es übersehen.«
»Es ist nicht das Einzige, was du übersehen hast«, konterte der Polizeichef. »Es ist so weit gekommen, dass wir uns nicht nur um die Gesetzestreue der Bürger kümmern müssen. Da die Presse es nicht mehr schafft, sich an ihre eigenen ethischen Regeln zu halten, sind wir jetzt auch noch dafür zuständig. Ich habe deshalb alle Hände voll zu tun, wenn der Redakteur also sonst nichts mehr auf dem Herzen hat ...«
Wenn, dann höchstens einen Infarkt, dachte Wicker. Und das
wäre ja auch kein Wunder. Er knallte den Hörer auf die Gabel, dachte fünf Sekunden nach und beschloss dann, Selma Perhovens zu schicken.
Selma Perhovens war Wickers einzige fest angestellte Mitarbeiterin, nur halbtags natürlich, aber wenn es in Lejnice — oder vielleicht auch in Europa — überhaupt jemanden gab, der den Namen des Toten vom Strand kannte, dann war Selma die Person, die diesen Namen in wenigen Stunden in Erfahrung bringen würde. Wenn er sich nicht ganz und gar in ihr getäuscht hatte.
Der erste Mord seit sechzehn Jahren, und die Lokalzeitung kannte nicht einmal den Namen des Opfers! Verdammte Scheiße!
Er warf zwei Blutdruck senkende Tabletten ein und suchte auf seinem Handy die Nummer.
Ewa Moreno aß an diesem Abend in einem Restaurant namens Chez Vladimir und beschloss, dass es das erste und das letzte Mal sein sollte. Sie nahm an, dass die übrigen drei Gäste des Abends das auch so sahen. Die Hackpastete mit Salat, die sie bestellt hatte — und die sie nach einer langen Wartezeit auch bekam und zu verzehren versuchte —, war nicht von der Art, die zu weiteren Besuchen reizte. Der Wein war das auch nicht, obwohl er sich, was seinen Säuregrad anging, durchaus mit der erkälteten Kellnerin messen konnte. Moreno dankte ihrem Glücksstern dafür, dass sie nur ein Glas bestellt hatte.
Ob der nächste Tag auch ihr letzter Tag in Lejnice sein sollte, war dagegen noch eine offene Frage.
Oder vielleicht eine nicht ganz so offene. Jetzt nach Hause fahren?, überlegte sie, während sie den letzten Tropfen Sauerwein hinunterzwang. Wo zwei Menschen verschwunden sind und am Strand ein unaufgeklärter Mord stattgefunden hat? Stellt sich diese Frage wirklich Kriminalinspektorin Ewa Moreno? Der ersten freien Frau der Weltgeschichte?
Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit konnte sie nur lachen.
Ich entscheide mich morgen, dachte sie dann. Heute Abend nehme ich mir eine Kanne starken Kaffee mit aufs Zimmer, dann reibe ich mir die Schläfen, bis sie Löcher kriegen oder bis ich zu einem Ergebnis gekommen bin. Es wäre ja auch nicht schlecht, wenn ich endlich wieder in meinem eigenen Bett schlafen könnte.
Sie fing damit an, dass sie auf eine leere Notizblockseite die Namen der in den Fall verwickelten Personen schrieb:
Winnie Maas
Arnold Maager
Mikaela Lijphart
Das machte sich schon mal gut. Sie dachte eine Weile nach, dann fügte sie noch einen hinzu:
Tim Van Rippe
Nicht, weil er etwas mit dem Fall zu tun zu haben schien, aber immerhin war er ja ermordet worden. Ihm folgten zwei weitere Namen:
Sigrid
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