Der Tote vom Strand - Roman
war er so schuldig wie sonst was. Lehrer schwängert Schülerin und bringt sie um! In dem Sommer war der Straßenverkauf wirklich eine Quelle der Freude!«
»Wie wurde er verteidigt? Wie hat sein Anwalt es aufgezogen?«
»Geisteskrank.«
»Geisteskrank?«
»Ja. Unheilbar. Eine andere vorstellbare Strategie gab es nicht. Der Anwalt hieß Korring, Maager hat ihn sein Geständnis vorbringen lassen, denn er selber hat während der ganzen Verhandlung kaum den Mund aufgemacht.«
Moreno dachte eine Weile nach.
»Und wieso bist du damals auf die Idee gekommen, die Sache könnte doch nicht so einfach sein, wie sie aussah? Denn das hast du doch geglaubt?«
Selma Perhovens zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht. Vielleicht war es mein jugendlicher Widerspruchsgeist. Mir war dieses allgemeine Einverständnis damals einfach unheimlich, übrigens finde ich so was heute noch suspekt. Ich glaube eher an fruchtbare Gegensätze. Aber egal, was hat das, was du mir hier erzählt hast, für eine Bedeutung? Was zum Teufel kann mit dem armen Mädel passiert sein?«
»Dazu brauche ich ja gerade deine Hilfe«, sagte Moreno. »Ich zerbreche mir darüber schon seit vielen Tagen den Kopf, aber das Einzige, was dabei herauskommt, ist die Überzeugung, dass irgendeine Spur in die Vergangenheit führen muss. Irgendetwas an der alten Geschichte stinkt, offenbar ist nicht alles ans Licht gekommen ... Mikaela Lijphart spricht zum ersten Mal seit sechzehn Jahren mit ihrem Vater. Dem Mörder in Großbuchstaben. Danach sucht sie allerlei Personen auf ... tja, ich glaube zumindest, dass es mehrere waren ... hier in Lejnice. Und danach verschwindet sie wieder.«
»Und als Nächster verschwindet der Papa. Warum zum Teufel haben wir nichts darüber geschrieben? Ja, ich weiß, dass wir die Vermisstenmeldung gebracht haben, aber den Hintergrund haben wir nicht erwähnt.«
»Wie sieht eure Zusammenarbeit mit der Polizei aus?«, erkundigte sich Moreno vorsichtig.
Selma Perhovens lachte schallend.
»Wie die aussieht? Wir führen einen Grabenkrieg, der den Ypernbogen absolut in den Schatten stellt.«
»Alles klar«, sagte Moreno. »Vrommel?«
»Vrommel«, bestätigte Selma Perhovens mit einem Hauch von ohnmächtiger Wut im Blick.
An der Glastür zum Vorderzimmer war ein vorsichtiges Klopfen zu hören, das sie jedoch mit einem Schnauben abtat. Moreno wechselte das Thema.
»Fand Maager damals irgendeine Unterstützung?«, fragte sie. »Von irgendeiner Seite? Gab es beispielsweise noch andere Verdächtige?«
Selma Perhovens nagte an ihrem Kugelschreiber und dachte nach.
»Nein«, sagte sie. »Nicht, dass ich wüsste. Ich glaube, diese ganze Scheißstadt war gegen ihn. Und damit meine ich wirklich die ganze.«
Moreno nickte. »In einer anderen Gesellschaft wäre er garantiert gelyncht worden.«
»Ich verstehe.«
Moreno hörte so was nicht zum ersten Mal, und sie fragte sich kurz, wie sie sich verhalten hätte. In der damaligen Situation. Besser vielleicht, dieser Frage nicht weiter nachzugehen. Es war natürlich angenehmer zu glauben, dass sie sich nie im Leben einem Lynchmob angeschlossen hätte, dass sie sich selber ein Urteil gebildet und ihre Integrität bewahrt hätte.
»Was glaubst du eigentlich?«, fragte Selma Perhovens nach kurzem Schweigen. »Dass es jemand anderes war? Das kannst du vergessen, das ist unmöglich. Er hatte doch die Leiche auf dem Schoß und weinte.«
Moreno seufzte. »Kann sie nicht gesprungen sein?«
»Aber warum hätte er dann gestehen sollen?«
Gute Frage, dachte Moreno. Aber nicht neu.
»Was war das für ein Arzt«, fragte sie, ohne so recht zu wissen, warum. »Der die Obduktion vorgenommen hat, meine ich.«
»DeHaavelaar«, sagte Selma Perhovens. »Der alte deHaavelaar, er war damals für fast alles zuständig. Geburten, Krankheiten und Obduktionen. Ich glaube, er hat sich sogar als Tierarzt betätigt. Ja, sein Wort galt. Gewichtig wie das Amen in der Kirche. Aber er hat vor Gericht nicht ausgesagt, das war nicht nötig.«
»Das war nicht nötig?«, fragte Moreno überrascht. »Wieso nicht?«
Selma Perhovens machte eine vage Handbewegung.
»Ich weiß es nicht. Seine Aussage wurde einfach verlesen. Vom Richter, glaube ich. Er hatte wohl anderes zu tun, deHaavelaar, meine ich.«
Der Schatten einer Ahnung huschte durch Morenos Kopf. Von links nach rechts, so schien ihr, und diese Seltsamkeit — dass ihr die Richtung auffiel — ließ den Inhalt der Ahnung verschwinden. So kam es ihr jedenfalls vor.
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