Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
mir zunächst Rätsel aufgegeben. Warum macht Arndt das, fragten wir uns? Dann begriffen wir: Die Wohnung war auch gar keine Ferien- oder Zweitwohnung. Da sollte kein Fernseher stehen, keine gemütliche Ledercouch, keine Ski im Keller. Also kein Rückzugsort aus dem stressigen Alltag, sondern vielmehr ein Rückzugsort aus dem Leben an sich. Arndt wollte es nicht bequem und gemütlich haben, er suchte eher einen Raum für, sagen wir, elementare Erfahrungen. Für ihn hatte es sicher auch mit Alkohol zu tun, aber er war kein Trinker im klassischen Sinn. Er brauchte den Rausch, die Achterbahnfahrt im Gehirn, wie er es ausdrückte, weil er – das ist zumindest meine These – sich nur dann selbst spüren konnte. Es war eine Art Injektion, die ihn für die Anforderungen in seinem Beruf und in seiner Ehe wappnete.«
»Was hat das mit dem Gruppennamen zu tun?«, unterbrach Batzko.
»Wenn Sie sich noch einen kleinen Augenblick gedulden. Ich wollte es Ihnen gerade erklären. Arndt erinnerte sich an ein Gericht aus seiner Kindheit, sein Lieblingsgericht, eben die ›Armen Ritter‹. Es war das Einzige, was er jemals in der Wohnung gegessen hat, egal zu welcher Tageszeit. Weißbrot, Eier und Milch verquirlt, in der Pfanne zusammen angebraten und gesüßt mit Honig. Es hat ihn an seine Kindheit erinnert, an die einzigen Jahre, in denen er sich unbeschwert, einfach glücklich gefühlt hatte. Er hat dieses Glück gesucht, ist ihm nachgejagt, und gleichzeitig blieb es für immer unerreichbar. Den Alkohol brauchte er, weil er – das ist zumindest meine Theorie – eigentlich gewusst hat, dass sich sein Leben immer weiter von dieser Illusion entfernt hatte. Er half ihm, die abgrundtiefe Leere zu ertragen. Einmal sagte er, während wir in der Küche standen: ›So sind wir doch alle vier. Arme Ritter, die sich in ihrer stolzen Rüstung zeigen, aber keinen König mehr haben, für den sie kämpfen, kein Land, das sie schützen, keinen inneren Auftrag und keine Mission.‹ Es war ganz spontan dahingesagt, und doch hat er damit ausgedrückt, was uns alle verband. Und Arndt hat es, wenn man so will, auch am konsequentesten gelebt.«
In diesem Moment löste sich Gertie Thaler von ihrem Mann. Sie wirkte abwesend und in sich gekehrt. Langsam ging sie um die Sitzgruppe herum und setzte sich auf die Couch, ihrem Mann gegenüber. Gerald hatte Mühe, den Blick wieder von ihr zu lösen. »Dann war das Kasperltheater also für Sie«, sagte Gerald so empathisch wie möglich. »Die kleine Welt, in der Diebe und schlechte Menschen mit dem Knüppel bestraft werden, während die Kinder davorsitzen und applaudieren, weil die Welt nun wieder ihre vertraute, sichere Ordnung hat.«
»Ja, denn die tatsächliche Welt wird unerträglich«, antwortete Thaler mit unerwarteter Heftigkeit. »Es gibt keinen Stil mehr, keinen natürlichen Anstand. Die Menschen benehmen sich so, als ginge es nur noch darum, den anderen kleinzuhalten, seine Macht zu demonstrieren. Jeder nimmt sich wichtig, kennt nur die eigenen Vorteile und benimmt sich immer gerade so schlecht, wie er es sich aufgrund seiner Position erlauben kann, ohne sanktioniert zu werden. Wir leben in einer Zeit, in der der Egoismus seine größte Ausdehnung erreicht hat. Wo sind sie geblieben, die Selbstdisziplin, die Bescheidenheit, der Respekt, der von innen kommt, der sich aus Prinzipien und Überzeugungen nährt? Wenn Sie in der U-Bahn sitzen, zwingt Ihr Nebenmann Sie, Teil seines Privatlebens zu werden, indem er lautstark Intimitäten mit seiner Freundin austauscht. Bald werden die Menschen mit nacktem Oberkörper in der Oper sitzen und sich die Fußnägel reinigen. Ich bin für diese Welt einfach nicht geschaffen!«
Thaler sank in sich zusammen. Er schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Gerald bemerkte, dass Gertie Thaler unruhig wurde. Sie stand von der Couch auf, ging in den vorderen Bereich des Raumes und nahm eine Schachtel Zigaretten aus einer Schreibtischschublade. Sie zündete eine an und inhalierte tief. Obwohl ihre innere Unruhe spürbar war, blieben alle Bewegungen kontrolliert. Auch das Rauchen wurde bei ihr zu einem sinnlichen Intermezzo.
»So war das also in Ihrem Quartett«, sagte Gerald leise. »Jeder hatte seinen eigenen Kummer, der ihn in diese Wohnung geführt hat und vor dem er für Stunden oder auch einmal Tage fliehen wollte. Aber dann sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen, nicht wahr?«
Thaler legte die Hände vor das tief gebeugte Gesicht. Seine Frau drückte
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