Der Toten tiefes Schweigen
sie.«
Mephisto folgte ihr, tappte vorsichtig zwischen den Reihen hindurch und drückte das Köpfchen an ihre ausgestreckte Hand.
»Dass zweimal am Tag die Schwestern kommen, ist phantastisch, obwohl sie mich wie Chris’ Ärztin behandeln, nicht wie seine Frau. Ich will nicht seine Ärztin sein, Judith. Ich möchte mit ihm als Ehemann sprechen und in ihm den Ehemann sehen, der stirbt, nicht den Patienten. Ich weiß, ich kann ihn medizinisch versorgen, wenn es sein muss, besonders mitten in der Nacht, aber ich bemühe mich, ihnen klarzumachen, dass sie in mir nicht die Ärztin sehen.«
»Er tut das allerdings nicht.«
»Stimmt. Du bist gut darin, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken, weißt du das?«
Judith lachte.
»Du bist auch sehr gut für Dad.«
»Danke«, sagte Judith, aber in einem Ton, der Cat erkennen ließ, dass weitere Diskussionen nicht gewünscht waren. Schön, das war in Ordnung. Sie hatte nicht vor, zu bohren. Judith war glücklich, die Beziehung schien gut, ihr Vater war weniger nervös. Mehr brauchte sie nicht zu wissen.
Sie standen eine Weile – Judith unbeholfen ans Spülbecken gelehnt, Cat in der geöffneten Tür – und betrachteten die herabfallenden Blätter, die das Sonnenlicht einfingen.
»Ich will, dass es vorbei ist«, sagte Cat. »Dir kann ich es sagen. Ich will, dass es für Chris vorbei ist, weil es schrecklich ist, aber ich möchte auch, dass es für mich vorbei ist. Das habe ich bisher nie begriffen – wenn Angehörige von Patienten so etwas sagten. Sie konnten nicht ertragen, dass ein ihnen Nahestehender starb, und doch konnten sie es kaum erwarten, dass er starb. Jetzt verstehe ich es. Hinzu kommt noch, dass ich nicht beten kann – das habe ich immer getan, und plötzlich kann ich es nicht mehr.«
»Das spielt keine Rolle. Wir anderen tun es für dich. Ich glaube, das ist eher normal.«
»Ich weiß nicht, woran du glaubst … Danach fragt man nicht, oder?«
»Willst du damit sagen, es sei nicht politisch korrekt?«
»So in der Art.«
»Ich bin katholisch. Keine sehr pflichtbewusste Katholikin, aber ich bin eine. Vom Papst habe ich die Nase voll. Aber der Papst ist schließlich nicht Gott, auch wenn er das glauben mag. Und jetzt muss ich diesen Auflauf fertigmachen.«
Als Cat ihr half, sich an den Küchentisch zu setzen, rief Chris, und Felix war aufgewacht.
»Gib Felix mir, du gehst zu Chris«, sagte Judith und deckte den Auflauf ab, um ihn vor Mephisto zu schützen.
Sobald Cat ins Schlafzimmer kam, wusste sie Bescheid. Chris lag auf der Seite, ihr zugewandt, die Augen geschlossen, doch als sie ihn berührte, schlug er sie auf und sagte: »Mir ist so kalt.«
Sie zögerte nur kurz, dann legte sie sich neben ihn und zog die Bettdecke über sie beide, rückte näher an ihn heran und hielt ihn fest, so gut sie konnte. Er zitterte.
»Ich liebe dich«, sagte Cat. »Ich liebe die Kinder, aber dich habe ich zuerst geliebt.«
Er hustete plötzlich und atmete mehrfach kurz und schnell hintereinander ein, hustete wieder. »Kalt.«
»Ich weiß. Es ist kalt. Der Winter steht vor der Tür. Liebling, Sam und Hannah kommen gleich aus der Schule. Willst du, dass sie zu dir kommen?«
Er murmelte etwas, das sie nicht verstand.
»Dad holt sie ab.«
Seine Gliedmaßen begannen krampfhaft zu zucken. Dann kamen sie wieder zur Ruhe. Er hustete ein paarmal. Hörte auf.
»Chris?«
»Sam?«
»Ja. Judith hat ihnen das Abendessen gekocht.«
»Nein.«
»Ich weiß. Du hast keinen Hunger.«
Er bewegte den Kopf und schrie auf.
»Lass mich die Pumpe überprüfen.«
Doch er klammerte sich so fest an sie, dass sie sich nicht regte. Sein Körper war kalt. Sein Körper war unglaublich dünn. Sie spürte Knochen unter der Haut. Es hatte den Anschein, als wäre kein Fleisch vorhanden.
»Bleib … hier …«
»Ja.«
Aus der Küche vernahm sie Felix’ Geplapper. Judiths ruhige Stimme. Ihr plötzliches, gemeinsames Lachen.
Tränen traten ihr in die Augen.
»Sam«, murmelte er.
Wieder zuckten seine Beine. Wurden ruhig. Sie lag neben ihm und hielt ihn fest, während der blaue Himmel vor dem Fenster zu Silberblau verblasste und dann golden und rot aufflammte, als die Sonne unterging.
Herbst, dachte sie. Sein letzter Herbst.
Sie lagen still nebeneinander. Der Wagen bog in die Einfahrt. Die Kinder rannten ins Haus. Türen schlugen zu.
Ihr Vater auf der Treppe, der ihren Namen rief. Dann trat er leise ins Zimmer. Sie hatte kein Licht gemacht. Die Wand ihr gegenüber
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