Der Totenerwecker (German Edition)
Index. Selbst Musik mit zweideutigen Texten wurde geächtet. Über Sex hatte sie zum ersten Mal von ihren Freundinnen an der High School etwas erfahren. Ein Wunder, dass sie nicht wie die meisten anderen direkt mit 15 schwanger wurde.
Auf dem College bot sich endlich der Freiraum, ihre Sexualität zu erforschen und Dichtung und Wahrheit voneinander zu trennen. Sie war fasziniert sowohl vom Mythos als auch der Wissenschaft der Sexualität und hatte im Hauptfach von Psychologie zu Sozialanthropologie gewechselt. Sie träumte davon, eines Tages ein bahnbrechendes Buch zu veröffentlichen, das ein neues Licht auf die menschliche Sexualität warf und die wichtige soziale Funktion vermeintlicher Abartigkeiten und Perversionen nachwies. Nach Sarahs Überzeugung folgte die Evolution der Sexualität einem darwinistischen Muster. Handlungen wie etwa sexuelle Gewalt wären längst aus dem menschlichen Genpool verschwunden, wenn sie nicht einen bestimmten Zweck erfüllten. Wobei ihrer Theorie zufolge der Zweck darin bestand, sexuelle Energie in nichtreproduktive Aktivitäten umzuleiten, die weder zur Überbevölkerung noch zur Ausbreitung von Krankheiten beitrugen.
Natürlich hätte sie nach dieser Logik in den stärker überbevölkerten Städten und Ländern der Welt auf eine größere sexuelle Vielfalt stoßen müssen, als es ihre Nachforschungen bisher hergaben. So müsste in Städten mit mehr als fünf Millionen Einwohnern exponentiell mehr sexuell abweichendes Verhalten zu beobachten sein als in solchen mit einer Million oder weniger. Nur leider fanden sich in den verfügbaren Statistiken keine signifikanten Unterschiede.
Frustriert klappte Sarah den Laptop zu und griff sich die Speisekarte des Zimmerservices vom Nachtschränkchen. Allmählich zweifelte sie daran, ihre Dissertation jemals fertigzustellen. Ihr Enthusiasmus ließ immer mehr nach. Sie fand ständig neue Löcher in ihrer Theorie, die gestopft werden mussten, und jedes Mal, wenn sie eine inhaltliche Lücke schloss, tat sich eine neue auf. Obendrein befürchtete sie, dass die ständigen Recherchen womöglich der Grund für ihre brutalen sexuellen Träume waren. Und falls die Träume doch real waren, wollte sie nicht darüber nachdenken, was dieses Monster bei ihr angerichtet hatte – doch genau in diese Richtung lenkte sie ihre Gedanken unweigerlich durch die Beschäftigung mit ihrer Abschlussarbeit.
Zielsicher landete Sarahs Blick auf den Desserts. Sie brauchte jetzt etwas Nervennahrung. Es gab Schokoladentorte und Toffee-Eis – genau das, worauf sie Lust hatte. Sie bestellte, dann nahm sie die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Sie drückte die Menütaste und wählte die Pay-per-View-Filme aus. Jetzt noch eine nette romantische Komödie, irgendwas Albernes mit Ben Affleck oder Hugh Grant. In Verbindung mit dem Eis und der Torte würde sie das garantiert von ihren Problemen ablenken. Und wenn es nicht wirkte, gab es immer noch den Fitnessraum des Hotels, auch wenn sie es hasste, auf Laufbändern zu joggen. Der Wind in ihrem Gesicht und die vorbeihuschende Umgebung waren für sie ein wichtiger Bestandteil des Laufens. Aber sie hatte keine Lust, mitten in Las Vegas zu joggen und sich durch die Menschenmengen zu drängeln. Auch wenn der Tourismus wegen der Rezession nachgelassen hatte, war der Boulevard immer noch überfüllt wie eine Diskothek am Samstagabend.
Sarah fand keine Filme, die sie nicht schon gesehen hatte oder unerträglich fand. So gern sie sich auch mädchenhaft und feminin fühlen und in etwas Geistlosem verlieren wollte, so wenig Lust hatte sie auf einen dieser dämlichen Armes-Mädchen-verliebt-sich-in-reichen-Gentleman-Streifen. Alles hatte seine Grenzen. Schließlich landete sie bei einem Dokumentarfilm über die Wanderungen der Grauwale. Nicht ganz das, wonach ihr der Sinn gestanden hatte, aber die Geräusche des Meeres und die Rufe der Wale wirkten seltsam tröstlich.
Sie war fast eingeschlafen, als es an der Tür klopfte. Ihre Pulsfrequenz schoss in die Höhe, und abrupt bekam sie Atemnot. Sie krabbelte vom Bett und griff hastig nach ihrer Handtasche und der Pistole darin.
Sarahs Hände zitterten, als sie die Halbautomatik aus der Tasche zog und eine Patrone in die Kammer gleiten ließ. Sie spannte den Hahn und ging zur Tür.
»Wer ist da?«
»Zimmerservice.«
»Stellen Sie es vor die Tür.«
»Äh ... ich brauche Ihre Unterschrift.«
Sarah stieß einen leisen Klagelaut aus. Es gab keinen Türspion, also musste sie
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