Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
es, dass er nicht einfach mit dem Auto abgehauen war. Warum hatte er das nicht getan? Warum war er nicht einfach direkt nach der Schießerei abgehauen? Was hatte er sich dabei gedacht? Dass nach drei Tagen alles vergessen wäre? Warum musste er unbedingt fliegen, verdammt? Er wollte ja nicht mal das Land verlassen.
Warum um alles in der Welt fiel ihm das erst jetzt ein, warum war er erst so total vernagelt gewesen?
Er blieb stehen.
Es war noch nicht zu spät. Er konnte sich immer noch umdrehen, nach draußen gehen, in den Wagen steigen … Nein, ein Taxi nehmen. Und wenn der Fahrer ihn erkannte?
Scheiße.
Okay. Noch mal von vorn. Umdrehen, rausgehen, in den Wagen steigen und verdammt nochmal wegfahren.
Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, unter die Brille, es kitzelte.
Er sah, dass einer der Bullen hinter dem Schalter ihn anstarrte.
Er drehte sich um.
Menschen kamen auf ihn zu.
Passagiere.
Er ging hastig davon.
Er sah, dass sich jemand einen Weg durch die Menge bahnte, im Slalom um die anderen herum, und ihn die ganze Zeit ansah.
Und dann fiel ihm auf, dass da noch viel mehr Leute waren, die durch die Menschenmassen auf ihn zukamen.
Vier, nein, fünf, nein, sechs schwarze Männer – einer davon Solomon.
Wieder blieb er stehen und drehte sich zu den Gates um.
Der Polizist, der ihn angesehen hatte, schaute auf ein Blatt Papier, dann wieder hoch zu ihm. Er sprach mit den beiden anderen Bullen, die ihn beide direkt ansahen.
Carmine wusste, er hatte verloren.
Er konnte sich gleich hier und jetzt ergeben, oder … Er drehte sich zu Solomon um, der auf ihn zukam. Er öffnete die Aktentasche und zog die Waffe heraus.
Er ließ die Tasche fallen. Mit einem Geräusch, das einem Platschen ähnelte, ergossen sich die Geldscheine über den Fußboden.
Die Leute um ihn herum blieben stehen, andere liefen in sie hinein.
Jemand sagte: »Hey, ist das Ihres?«
Er hob die Waffe, lud durch und ging auf Solomon zu. Die Menschen um ihn herum erstarrten. Er nahm Solomon ins Visier und zog den Abzug. Solomon stürzte zu Boden und rollte sich nach links ab.
Carmine zielte noch einmal, doch bevor er einen zweiten Schuss abgeben konnte, explodierte in seinem Oberkörper ein gewaltiger Schmerz.
Schaulustige um ihn herum, sie gafften, zitterten, heulten, manche sahen gleichgültig, manche neugierig aus.
Es fühlte sich an, als wäre ihm der Brustkorb eingedrückt worden. Er konnte nur schwer Luft holen. Sein Hemd und sein Jackett waren vom gleichen Hellrot.
Er würde sterben.
Er suchte unter den Zuschauern nach Solomon.
Er fand ihn, da stand er, eines von vielleicht zwanzig Gesichtern, er sah ihn ungerührt an.
Und dann kam jemand dazu, jemand, den er kannte: der Bulle, der ihn auf dem Parkplatz vor dem Al & Shirley’s zusammengeschlagen hatte.
Max Mingus.
Außer Atem, mit hochrotem Gesicht. Er hatte sich durch die Menge gedrängt und stand nun direkt neben Solomon.
Solomon betrachtete ihn von der Seite.
Carmine wollte aufstehen und Mingus warnen, aber er konnte nicht. Er versuchte, den Arm zu heben, um wenigstens auf Solomon zu zeigen, aber der Arm war zu schwer. Er wollte etwas sagen, aber seine Kehle war voll mit Blut.
Also beschloss er, mit den Augen zu zeigen. Er sah Mingus in die Augen, ganz tief, und dann bewegte er die Augen scharf nach rechts. Mingus reagierte nicht.
Er wollte es noch einmal versuchen, aber sein Blick wurde ganz verschwommen, dann kam Nebel auf, und alle Farben blichen aus zu dem reinsten Weiß, das er je gesehen hatte.
Scheiß drauf, dachte er. Ich hab’s versucht.
Sechster Teil
August – Oktober 1981
73
Max kam immer wieder zu sich, plötzlich war er wieder bei Bewusstsein und genauso plötzlich wieder weg, als durchliefe er ganze Zeitzonen mit geflügelten Schuhen – von Tag zu Nacht, zu Tag und wieder zu Nacht. Das Wachsein war nur schwer zu ertragen: Es brachte einen wilden Schwindel mit sich und heftige, stechende Schmerzen im Nacken und in den Schultern. Er versuchte, seine Augen auf etwas Bestimmtes zu fokussieren, aber alles um ihn herum drehte sich mit rasender Geschwindigkeit wie ein frisch geschmiertes Karussell, nicht zu fassen und nicht zu definieren. Es war leichter, einfach die Augen zu schließen und schnell und tief in die Bewusstlosigkeit abzugleiten, wo der Schmerz nachließ, alles in seinem Kopf zur Ruhe kam und klar wurde.
Das Vorletzte, an das er sich erinnerte, war Carmine Desamours, der auf dem Boden lag, der Oberkörper rot und
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