Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
passierte, diese Geschichten hatte er nie geglaubt.
Doch es war alles wahr. So wie es aussah.
Er konnte sich nicht bewegen, nicht einen einzigen Muskel, nur die Augen. Der Rest seines Körpers war erstarrt, wie ausgeschaltet, stehengeblieben zwischen zwei Herzschlägen. Sein Körper fühlte sich unglaublich schwer an, die Knochen wie mit Blei gefüllt, die Haut mit Kanonenkugeln beschwert. Er konnte nicht einmal den Mund aufmachen. Die Lippen und Kiefer gingen einfach nicht auseinander. Er musste durch die Nase atmen, was ziemlich anstrengend war, die Luft musste sich einen Weg durch die arg verstopften Nasenlöcher bahnen und schaffte es kaum in die Lungen. Und dann diese gewaltige, schmerzhafte, unbewegliche Masse tief unten in seinem Magen, als hätte er eine viel zu große Mahlzeit zu sich genommen, die seine Verdauungssäfte schlichtweg nicht bewältigen konnten; das Essen blieb ihm einfach im Magen liegen, rührte sich nicht von der Stelle und faulte langsam vor sich hin.
Er schaute nach oben und nach rechts und links, soweit das ging. Er blickte in zwölf Augenpaare, die alle mit dem gleichen Hass und der gleichen Verachtung auf ihn herabschauten. Er erkannte weder alte Freunde noch lebenslange Feinde, aber er war sich sicher, dass beide anwesend waren, Seite an Seite – so hatte er es gehört. Ihre Gesichter waren unter dem Make-up nicht zu erkennen – die obere Gesichtshälfte von der Stirn bis zur Oberlippe war kalkweiß, die untere bis zum Halsansatz schwarz, genau wie die Lippen und die Ohren, Nase und Augen. Und sie waren alle gleich gekleidet, Zylinder, Frack, graue Nadelstreifenhose, weißes Rüschenhemd und schwarze Handschuhe. Er begriff nur nicht, warum sie so riesig waren – mindestens vier oder fünf Meter groß. Oder lag das an seiner Perspektive oder an seinem Geisteszustand, oder hatten sie ihm irgendetwas gegeben, das ihm den Verstand vernebelte?
Wie lange war er schon hier? Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er in seinem Bett in Montreal aufgewacht war, gleißendes Licht in den Augen, eine Waffe an der Schläfe und die Stimme eines Mannes: »Aufstehen! Du hast noch was vor.«
Da hatte er gewusst, dass sie ihn gefunden hatten. Ihm war das schon klar gewesen, als er abgehauen war, er hatte gewusst, dass es keine Rolle spielte, wie weit er kam, wie tief er sich vergrub, dass sie ihn früher oder später kriegen würden, dass er früher oder später würde bezahlen müssen für das, was er getan hatte. Trotzdem war er am Anfang sehr vorsichtig gewesen, war viel gereist, nie länger als zwei Tage an einem Ort geblieben, hatte die Ghettos gemieden, hatte alle Haitianer und Dominikaner gemieden und einen Bogen um kleine Städte gemacht, aber was hatte er die Leute immer und immer wieder sagen hören? »Wenn Solomon Boukman hinter dir her ist, wird die Welt zu einem sehr kleinen Dorf mit Wänden aus Glas.« Vielleicht hätte er es länger geschafft, wäre da nicht seine Sucht: Heroin – die Nadel, keine Folie. Das hatte ihnen die Suche erleichtert. Ein Junkie kann nur dann untertauchen, wenn er sich entweder einen großen Vorrat anlegt oder entzieht. Er hatte keines von beiden getan. Ein Junkie muss raus und sich Stoff besorgen. Sie hatten nicht mehr tun müssen, als an dieser Fessel um seinen Arm zu ziehen und ihn einzuholen. Wer hatte ihn verraten? Der Dealer, von dem er seine letzte Dosis gekauft hatte? Der Stoff war verdächtig gut gewesen, so gut, dass er noch mit der geladenen Spritze in der Hand einen Kick gekriegt hatte. Seine letzten Gedanken, bevor er untergegangen war, waren paranoid gewesen. Montreal war nicht gerade berühmt für die Qualität seines Heroins. Der Stoff, den er sich bis dahin gespritzt hatte, war eher bescheiden gewesen, es hatte ihn gerade so unter die Oberfläche gezogen, war aber nicht annähernd so gut wie das Zeug, das er sich in Miami abgezweigt hatte. Das hatte ihn ganz tief hinuntergeschickt in den warmen Seidenkokon, wo die Zeit stehen blieb und nichts mehr wichtig war und er frei von allem. Und genau das war auch bei seinem letzten Schuss passiert. Kurz bevor er weggenickt war, hatte er sich gefragt, ob Solomon ihn endlich gefunden hatte, ob seine Leute gleich durch die Tür hereinkommen würden, sobald er sich von sich selbst entfernte, doch dann hatte das Heroin seine Sorgen aufgelöst wie heißer Kaffee einen Zuckerwürfel. Und dann waren sie tatsächlich gekommen. Genau, wie er gedacht hatte. Und jetzt war er hier und wartete auf den
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