Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
Spalte.
Denn zusätzlich zu seinem Qualm war London eine neblige Stadt. Viele Dinge konnten sich im Nebel verbergen. Rue war sich dessen bewusst.
Sie legte ihren Fächer und ihre Handtasche auf das Tischchen im Eingang und prüfte die Dunkelheit.
Die Räume im Innern waren weitaus prächtiger eingerichtet, als man es in dieser Nachbarschaft erwartet hätte. Das war ihr einziges offenes Eingeständnis an das geheime Leben, das sie führte. Sie genoss den Luxus, und ihre Einrichtung sprach Bände davon: kostbare Hölzer, importierte Stoffe, außergewöhnliche Kunstwerke und die erlesensten Möbel.
Und alles blieb im Augenblick bewusst im Dunkeln.
Gemessen am üblichen Standard hielt sie ihr Zuhause nie sonderlich hell erleuchtet, doch normalerweise sorgten ihre Hausangestellten dafür, dass wenigstens neben der Tür eine Öllampe brannte.
Das Klappern ihrer Absätze erfüllte das Entrée, während sie ihre Handschuhe abstreifte und dann den Hut abnahm. Sie legte beides auf einem Stuhl im Wohnzimmer ab - welches ebenfalls im Dunkeln lag -, dann warf sie einen Blick in den Salon. Doch das einzige Licht, das zu entdecken war, kam aus dem Esszimmer. Dort blieb sie im Eingang stehen, betrachtete die Stühle und den Mahagonitisch und den vergoldeten Spiegel über dem Kaminsims, der den Kandelaber mit seinen schier unzähligen dünnen, tanzenden Flammen zurückwarf.
Auf dem Tisch lagen die fünf Abendzeitungen ausgebreitet, zusätzlich zwei andere, die sie noch nicht gesehen hatte. Rue beugte sich darüber, die Hände auf das Holz gestützt, und überflog die Schlagzeilen.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte sie ruhig, ohne von den Zeitungen aufzusehen.
»Ich habe ihr den Abend freigegeben«, sagte eine Stimme unmittelbar hinter ihr.
»Schon wieder?«
»Wir brauchen sie nicht. Ich komme auch ohne sie zurecht.«
Sie drehte sich um und entdeckte den Jungen im Schatten: schmal und eine Spur zu klein für seine zwölf Jahre, hellbraunes Haar, das immer ungekämmt aussah, und mit wie Bernstein leuchtenden Augen, gleich denen eines Nachttieres, das in sehr dunklen Wäldern haust.
Rue verschränkte die Arme. »Sie ist nicht deine Angestellte, Zane, sondern meine . Ich würde es begrüßen, wenn du aufhören würdest, alle Haushaltshilfen wegzuschicken.« Sie runzelte die Stirn und musterte ihn von oben bis unten. »Und wo ist deine neue Livree?«
»Sie kratzt.«
»Dann wasch sie.«
»Hab nich’…«
»Ich habe nicht …«
»… genug Zeit gehabt, sie zu waschen. War unterwegs.«
»Ich weiß. Aber du musst diese Livree tragen, besonders dann, wenn du hier bist. Ansonsten ziehst du die Aufmerksamkeit auf dich. Das Mädchen und die Köchin tragen Uniformen; das musst du auch. Wir sind ein außerordentlich anständiger Haushalt.«
Er warf ihr sein arglosestes Lächeln zu.
Auch ein ganzer Berg von Kämmen und Uniformen würde ihn nicht verändern: Zane war ein Straßenlümmel, schlau und ungezähmt. Sie hatte ihn vor zwei Jahren in einer Winternacht in einer Gasse gefunden, als er kurz davor war, aus einer Messerwunde zwischen den Rippen zu verbluten. Lautlos
wie die Luft war sie an ihm vorbeigeglitten, doch er hatte trotzdem den Kopf gehoben und dann seine Hand nach ihr ausgestreckt.
Er hatte sie gesehen. Er hatte ihre Augen gefunden. Und weil das der Fall war … weil er es irgendwie vermocht hatte … ging sie zu ihm zurück.
Er war Haut und Knochen und roch nach Ärger. Das war ihr erster Gedanke. Sie brauchte keinen Ärger in ihrem Leben. Sie brauchte kein weiteres Risiko, dessentwegen sie sich Sorgen machen musste, davon hatte sie auch so verdammt noch mal genug. Rue ging es seit einiger Zeit gut, und das lag zu keinem geringen Teil daran, dass sie wusste, wie sie allein bleiben konnte.
Und doch hatte sie in dieser stinkenden Gasse gezögert und sich dann neben dem Kind hingehockt. Sie hatte sein wächsernes Gesicht betrachtet, die getrübten hellen Augen, die sie flehentlich ansahen, und die Lippen, die versuchten, Worte zu formen.
Er hatte sie gesehen.
Sie berührte seine Wange mit den Fingern und beschloss, einem Impuls folgend, ihn zum Sterben mit nach Hause zu nehmen.
Sie war nicht daran gewöhnt, ihren plötzlichen Regungen zu folgen. Die wenigen Male, da sie es getan hatte, waren große Veränderungen über ihr Leben hereingebrochen. Und mit Zane war es keine Ausnahme, wie sich herausstellte.
Er war zu störrisch zum Sterben gewesen. Er hatte sich auf ihr neues Hepplewhite-Sofa fallen lassen und
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