Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
kannte den bitteren Schmerz.
Eine Nacht, nur um ihr gegenüber fair zu sein. Aber nach dieser Nacht würde sie hier schlafen, neben ihm.
Die Jahre, in denen Rue ein Schattendasein geführt hatte, hatten sie gelehrt, stets die Ohren offenzuhalten, denn selbst das leiseste Geräusch konnte den Unterschied zwischen Erfolg und Versagen bedeuten, zwischen dem Entwenden einer Börse mit Kupfermünzen und einer mit Gold, zwischen Gefangenschaft und Befreiung.
Und so lauschte Rue. Sie lauschte aufmerksam die ganze Nacht, aber sie hörte kein einziges Flüstern zwischen den Wänden hindurch in ihr Gefängnis dringen. Sie vernahm nicht einmal das übliche Poltern und Schlurfen der Männer, von denen sie wusste, dass sie vor der Metalltür Wache hielten.
Und doch wurde ihr im Laufe der Nacht klar, dass die Zelle nicht so gänzlich von der Welt abgeschottet war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte.
Sie hatte sich des protzigen Kleides entledigt, die Decke eng um sich geschlungen und sich auf das Bett gelegt, ohne Nachtzeug
oder Unterhemd. Die Luft war gleichbleibend muffig und kühl, und die Matratze hatte einen Wulst.
Nach Tagen der Dunkelheit sehnte sie sich nach Licht und ließ deshalb die Laterne hinunterbrennen, doch selbst als die Flamme erloschen war, schien sich der Geruch von Walöl an die Laken und Wände zu klammern.
Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Sie schloss die Augen und dachte an ihr Federbett daheim in London, an ihr Zuhause, an ihre Angestellten und Zane. Es bereitete ihr Sorgen, was sie wohl getan haben mochten, nachdem sie die Vordertür offen stehend und die seltsame Kleidung in ihrem Zimmer vorgefunden hatten. Sie befürchtete, dass die Köchin und Sidonie gar die Polizei eingeschaltet haben könnten und dass Zane noch nicht alt genug war, um sie davon abzuhalten.
Wie durch Zufall entdeckte sie die erste Botschaft. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, als sie versuchte, die Ausbeulung auf der Matratze zu meiden, und hatte dabei die linke Hand gehoben und damit über die Wand gestrichen. Die steinerne Oberfläche war uneben. Schwach, ganz fein, war dort etwas eingeritzt.
Rue öffnete die Augen und folgte den Linien. In Gedanken formte sie die Buchstaben, während ihre Finger sie nachzeichneten. DIE FLÜGEL GESTUTZT. Und unmittelbar darunter: MIT GEBROCHENEM HERZEN. M. A., 1689.
Sie setzte sich auf und betastete die Worte in der dunklen Kammer noch einmal, die Initialen und das Datum, dann legte sie beide Hände auf die Mauer und ließ zu, dass das Gestein die kostbare Wärme herauszog. Es dauerte nicht lange, bis sie weitere Einritzungen fand, diesmal näher am Kopfende des Bettes, halb verdeckt durch den Pfosten. Dieses Mal waren es keine Worte, sondern eine Zeichnung, eine
dünne, zittrige Linie mit zwei ausgebreiteten Flügeln, die aus der Mitte sprossen. Ein Drache im Flug. Direkt dahinter war noch einer und dann noch einer und noch einer, jeder kleiner als der vorherige. Vielleicht handelte es sich um eine Familie. Vielleicht hatte der Mann, der dies in den letzten, kläglichen Tagen seines Lebens eingekerbt hatte, einst eine Familie gehabt.
Sie ließ sich zurück auf die Kissen sinken und dachte nach. Was hatten sie benutzt, um in den Stein zu meißeln? Mit Sicherheit hatte ihr der Marquis keine Waffe gelassen, und auch sonst nichts Scharfes. Gedankenverloren rieb sie die Decke über ihren Beinen, um diese wieder zu wärmen, dann stand sie auf und tapste vorsichtig zum zerborstenen Tisch. Mit ausgestreckten Händen tastete sie so lange, bis sie die Tischplatte und das abgebrochene Bein fühlte. Es war zerschlagen, und das letzte Stückchen Holz am Gelenk hing lose, sodass lange, schwere Nägel zu sehen waren.
Sie schnitt sich, als sie an dem längsten zerrte, doch sie sog nur das Blut vom Finger und machte mit der anderen Hand weiter, bis der Nagel sich löste.
Rue ging zurück zum Bett, suchte eine unbenutzte Stelle an der Wand und begann, mit Hilfe des Nagels etwas einzuritzen.
Als er zurückkam, erwartete sie ihn nur in eine Decke eingehüllt, aufrecht auf dem Bett sitzend, mit über Kreuz gelegten Beinen und im Schoß gefalteten Händen. Das Licht, das durch die Tür hineinfiel, tauchte sie in ein kühles, helles Rechteck, in das sie unverwandt und ohne zu blinzeln starrte. Er fragte sich, wie lange sie im Dunkeln gesessen haben mochte. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und zu einem Zopf geflochten, was ihre Wangenknochen betonte, den
vollen,
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