Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
um sich herum, die abendlichen Gerüche und die wie ein Wasserfall auf sie einstürzenden Geräusche eines Ortes, den sie so weit von sich geschoben hatte, dass er nur noch in ihren Träumen bisweilen an die Oberfläche gekommen war.
Sie hatte die Zeit in einem Dämmerzustand verbracht. Manchmal war der Marquis da, manchmal nicht. Er brachte ihr Essen und Trinken und fütterte sie eigenhändig. Sie fragte sich, ob er ihr etwas in ihre Nahrung tat, denn sie schlief viel. Aber als Rue letzte Nacht erwacht war, hatte sie wie eine Lerche, die vom Wind zurück an den Ort ihrer Geburt getragen wird, gewusst, dass sie in Darkfrith angekommen war.
Die Grillen, die aus dem verwilderten Farnkraut heraus zirpten, das die langen, gewundenen Zufahrtswege zum Herrenhaus säumte, waren ihr bekannt.
Sie kannte auch das Knirschen, das der erbsengroße Kies unter ihren Füßen verursachte, als sie vorsichtig aus der Kutsche hinaus wieder auf festen Boden trat.
Der Duft des Waldes, der wie eine kalte, kühle Hand über sie hinwegstrich, ihr Gesicht berührte und mit ihren Haaren spielte, war ihr tief vertraut.
Sie kannte das Gras und die Eulen.
Sie kannte das leise Knistern des Binsenkrauts.
Sie kannte das Flüstern, die starrenden Blicke und die Laute des Erstaunens.
Und sie kannte den Mann, der ihren Ellbogen festhielt, seinen Schritt, der nun kürzer ausfiel, um sich dem ihren anzupassen. Rue straffte die Schultern und trat selbstbewusst in
das Nichts, das sich vor ihr auftat. Sie war hier, das war alles. Sie war noch nicht besiegt.
»Hier entlang«, flüsterte Christoff ihr ins Ohr, als könnte sie plötzlich einen anderen Weg einschlagen. Sie hörte, wie sich die hölzernen Türen des Hauses mit einem Ächzen öffneten, und nahm neue Gerüche wahr: Bienenwachs, Rosen, Pinienharz, poliertes Metall. Ganz schwach roch sie Zwiebeln und Rindereintopf.
Vermutlich beobachteten die Leute, die um die Kutsche herumstanden, wie sie weggeführt wurde. Sie hielt ihre Finger bewusst entspannt hinter ihrem Rücken und ließ sich nichts anmerken von dem stechenden Schmerz auf ihrer Haut, wo die Satinbänder des Marquis einschnitten.
Die Schuhe, die man ihr gegeben hatte, waren zu groß. Gott allein wusste, ob sie neu oder alt waren, aber als sie den Fuß beim dritten Schritt in der glatt polierten Eingangshalle aufsetzte, glitt sie auf ihrer Sohle aus. Einen kurzen Augenblick lang geriet sie ins Taumeln, und der Griff an ihrem Arm verstärkte sich. Gemeinsam machten sie Halt, Rue fand das Gleichgewicht wieder, kam zu Atem und war stolz, dass sie keinen Laut von sich gegeben hatte.
»Vorsichtig«, warnte Kit. Und dann, etwas freundlicher: »Wir sind fast da.«
Natürlich hatte sie das bereits gewusst, denn erneut hatten sich die Gerüche um sie herum verändert, wurden geheimnisvoller, je tiefer sie durch die widerhallenden Flure schritten. Sie war erst ein einziges Mal in Chasen Manor gewesen, als der alte Marquis noch lebte und sie ihre Stammestaufe erhalten hatte. Es war ein Ritus, der für jedes Neugeborene durchgeführt wurde, selbst für Halbblütige. Rue bezweifelte, dass ihr ansonsten auch nur dieser kurze, herausragende Augenblick vergönnt gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt
war sie nicht älter als zwei Wochen gewesen. Immer und immer wieder hatte sie Antonia gebeten, ihr diese Geschichte zu erzählen.
Der Raum war von Kerzen erleuchtet, Dutzende von Kerzen, jede davon engelsweiß .
Jetzt war es auf jeden Fall kühler als damals. Die Wände standen enger beieinander, die Gänge waren schmaler. Es gab mehr Biegungen.
Du trugst das spitzenbesetzte Kleid deiner Großmutter.
Jemand sprach hinter den verschlossenen Türen, aber sie konnte keine einzelnen Worte ausmachen. Als sie vorübergingen, verstummten die Stimmen ganz schnell.
Alles war aus feinstem, reinstem Marmor, die Wände, die Böden, das Taufbecken.
Christoff wurde langsamer, sie ebenfalls. Sie spürte, wie er sich umdrehte, um einen Blick hinter sich zu werfen, vielleicht auf die Männer, die ihnen folgten.
Die schmelzenden Kerzen verbreiteten einen wunderbaren Duft.
Vor ihr lag eine weitere Tür. Sie strahlte Kühle aus. Wieder Metall. Wahrscheinlich Eisen.
Du hast den Marquis angelächelt.
Sie hörte ein schweres Schaben, ein Riegel wurde angehoben. Sie vernahm, wie ein Schlüssel seinen Weg ins Schloss fand.
Die anderen Säuglinge machten ein Geschrei.
Der Luftzug, der ihr nun entgegenschlug, war abgestanden und feucht.
Aber du hast kein einziges Mal
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