Der träumende Diamant 3 - Drachenmagie
herumschleichen will. Welch interessantes Kleid. Es sieht einer Zofen-Uniform sehr ähnlich. Was hast du mit der Schürze gemacht?«
»Nichts«, hatte sie gemurmelt. Und nach einem Moment: »Ich hefte sie wieder an.«
»Besser du als ich«, sagte Rue fröhlich, denn jedermann wusste, wie sehr sie das Nähen hasste.
Audrey hob das Kinn. »Nun? Wirst du mich nicht bestrafen?«
»Ich?«, erwiderte ihre Mutter. »Gute Güte. Was hast du getan?«
»Das.« Sie wies mit knapper Geste zum Dorf, auf die von Läden verschlossenen Fenster. »Ich wollte wegrennen.«
»Aha. Das nennst du also Wegrennen?«
Und da war etwas, ein vorsichtiges Mitleid in ihrer Stimme, das Audrey dazu brachte, die Nerven zu verlieren. »Ja, das tue ich. Sicherlich ist es nichts verglichen mit d ir , dem großartigen Rauchdieb, aber ich vermute, dass es nicht erlaubt ist - ich habe dieses Band heruntergerissen, ja, und ich plane allen Ernstes, all die anderen niederzureißen, so viele, wie ich kann - und ich garantiere dir, dass ich, hätte ich auch nur eine Unze deiner Gaben , diesen Ort inmitten eines Aufruhrs längst verlassen hätte.«
Rue antwortete nicht. Audrey atmete heftig durch die Nase, zu ihrem Leidwesen den Tränen nahe. Die abgedunkelte Straße vor ihr bebte, und in die Musik aus der Schänke stimmte ein Kornett mit ein.
Audrey hatte bereits die Laternenkerze vor der Bücherei mittels eines gut gezielten Steins ausgelöscht. Als Rue vortrat, schritt sie in Schatten.
»Glaubst du, es würde leicht für ihn werden?«, fragte sie leise und legte eine Hand auf den Arm ihrer Tochter.
Audrey zuckte von ihrer Mutter weg. »Ich will nicht darüber reden.«
»Das wird es nicht, musst du wissen. Er ist stark, und das ist eine sehr gute Sache, denn der Anführer unserer Art zu sein ist eine Last, welche die Schwachen zerstört.«
»Ach, wirklich? Armer Kim!«
»Nein. Arme Audrey, die zusehen und erkennen muss, dass sie ebenso klug und stark ist wie ihr Bruder, aber niemals die Erlaubnis erhalten wird, sein Leben zu leben. Sie
wird zu einer wunderschönen jungen Frau heranwachsen. Sie wird sich verlieben und heiraten. Sie wird das Fliegen lernen - ja, meine Liebe, das wirst du; wir sind uns sehr ähnlich, und so viel habe ich dir gegeben, daran hege ich keinerlei Zweifel. Aber du wirst immer weiblichen Geschlechts sein.« Rue hob eine Hand in der Nacht, begutachtete die Spitzen ihrer Finger, die Biegung ihres Handgelenks. »Und vielleicht - eines Tages - wird Audrey zu mehr werden als der Rest von uns. Vielleicht wird sie ihren Stamm davon überzeugen, dass die Frauen einen besseren Platz als den verdienen, den sie jetzt einnehmen. Vielleicht wird sie erfolgreicher sein als ihre Mutter.« Sie ließ den Arm sinken. »Kimbers Welt ist gleichzeitig weniger und mehr als die deine. Er wird nie so kämpfen müssen wie du. Er wird nie so lernen wie du. Als sein Vater so alt war wie er, war er schon dazu gezwungen gewesen, in aller Öffentlichkeit zwei Angehörige unseres Stammes zu töten, weil sie zu einer Bedrohung für uns, für unser Überleben geworden waren. Ist das die Rolle, die du dir wünschst?«
Sie sprach die Wahrheit: Audrey wusste, dass ihre Mutter die Wahrheit sagte. Sie blickte auf das sich um sich selbst windende Band hinunter und schüttelte den Kopf.
»Dein Bruder wünscht es auch nicht«, sagte Rue einfach. »Aber er würde es tun. Gewalt, Meuchelmord. Lügen, Betrug, Tod. Was auch immer er tun muss. Ebenso wie sein Zwilling wurde er mit einem weichen Herzen geboren, und der vor ihm liegende Weg wird nichts anderes zustande bringen, als es zu verdüstern. Ich glaube nicht, dass du ihn darum beneiden solltest. Ich glaube es nicht.«
All die Jahre später hallten die Worte ihrer Mutter, Rues sachlicher Ton in ihren Ohren wider, und Audrey erinnerte sich an ihre flüchtige Berührung. Sie blickte ihren Zwillingsbruder
an, der jetzt im prächtigen, schwarz- und cremefarbenen Ballsaal von Chasen Manor stand mit den schimmernden Durchbruchsarbeiten mit Bernsteinlagen und Blattgold. Sie sah die Gesichter ihres Stammes, so viele, wie nur in den Saal passten, und das waren eine ganze Menge.
Die Hälfte eines Ganzen. Er stand auf dem Podium für die Musiker - auf ebendem Podest, wo man vor genau vierzehn Jahren eine Quadrille gespielt hatte - und sprach Worte zu dem Stamm, Worte, die Audrey nicht richtig hörte, weil sie sich stattdessen auf den Mann selbst konzentrierte.
Dieser Mann war nicht Kimber. Er sah nicht wie Kimber
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