Der träumende Diamant 3 - Drachenmagie
Kulisse aus dicht und geheimnisvoll wuchernden Bäumen. Er hatte hohe, von grünen Flechten gesprenkelte Marmorsäulen, und unter seinem breiten, gewölbten Dach standen Bänke. Als sie nach oben blickte, bemerkte sie, dass man die Decke mit tausenden kleiner Glasplättchen geschmückt hatte. Als sie den Kopf neigte, schimmerte das Licht auf der konkaven Wölbung und enthüllte Farben, denen weder Zeit noch Wetter etwas hatten anhaben können. Das Mosaik stellte die vier Jahreszeiten dar.
Sie nahm unter dem Herbst Platz; von dort aus hatte man den besten Ausblick auf den Wald.
Kimber stand immer noch auf dem Gras vor dem Pavillon und sprach mit einem der Diener, die ihnen ins Freie gefolgt waren. Als er fertig war, stieg er die Steintreppen des Pavillons empor und suchte sich einen eigenen Platz. Unter dem Winter, gleich neben ihr.
Für eine Weile sprach keiner von ihnen.
»Ich frage mich eins«, sagte er dann plötzlich und schob sich einen in einem Stiefel steckenden Fuß übers Knie, »Maricara, Königin der Zaharen. Wen spüren Sie just in diesem Augenblick in der Grafschaft?«
»Wen?« Schuldbewusst zwang sie ihre Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück und zupfte an einer Locke ihres Haars, die sie im Nacken kitzelte. »Was meinen Sie?«
»Können Sie einen jeden spüren?«
»Das kann man nie so genau wissen. Wenn hier jemand wäre, den ich nicht spüren kann …«
»Ja, ja. Das verstehe ich.« Der Graf schlug fest auf ein wenig Gras ein, das an seinem Stiefel klebte. »Ich wollte eigentlich fragen, ob es Ihnen möglich ist, eine Drákon zu
spüren, der Sie nie zuvor begegnet sind? Sie sozusagen herauszusuchen?«
»Sie«, meinte Maricara und fühlte, wie ihr Herz wieder an den Angelhaken geriet.
»Ein Mädchen. Ungefähr fünfzehn. Sie verschwand letzte Nacht.«
»Oh.« Und mit weicher Stimme fragte sie: »Meinen Sie nicht in Wirklichkeit, ob die S anf hier sind?«
»Das sind sie nicht. Es halten sich keine menschlichen Männer in der Grafschaft auf. Dessen bin ich mir verdammt sicher.«
Sie hob den Kopf und schloss die Augen. »Ja, ich bin der gleichen Ansicht«, sagte sie. »Keine Anderen . Keine Tiere. Nicht einmal die Singdrossel, jedenfalls nicht mehr.«
»Und kein vermisstes Drachen-Mädchen?«
»Können Sie sie mir beschreiben?«
»In etwa. Ich bin ihr selbstverständlich begegnet, aber hier im Stamm gibt es etliche junge Mädchen. Lassen Sie mich nachdenken. Rotblondes Haar, hübsches Gesicht. Rundlich. Blaue Augen, wie ihre Mutter … Vor allem kenne ich ihren Geruch. Hier.« Kimber griff nach einem Stück Stoff, das er in seine Jackentasche gesteckt hatte.
Maricara nahm den Stoff entgegen. Das Busentuch war unauffällig auf eine Weise, wie es die meisten Tücher für junge Damen waren, aus gestärktem, in Spitze eingefasstem Musselin, und ihm fehlten sogar die in eine Ecke gestickten Initialen. Die Kanten waren stark zerknittert, als hätte das Mädchen es am Vortag in den Ausschnitt ihres Kleides gesteckt.
»Ich habe Männer ausgeschickt, die kreuz und quer durch die ganze Grafschaft nach ihr jagen«, sagte Kimber. »Rhys und die Ratsmitglieder haben sich auf die nächstgelegenen Städte verteilt. Aber ich dachte …«
Maricara hob den Musselin an ihre Nase und zuckte zusammen, dann schaute sie ihn über die zerknüllten Falten hinweg an.
»Sie mag Vanille.«
»Das habe ich bemerkt.«
Wolken, Feuchtigkeit, Tag; auf der Oberfläche wirkte alles so, wie es sein sollte. Alles schien wie immer zu sein. Das Pulsieren der Drákon der Grafschaft, die stickige Wärme der unsichtbaren Sonne, die Metall-Legierungen und Felsen von Chasen Manor und der Boden unter ihren Füßen. Der ekelhaft süße Extrakt von Vanillesirup überflutete ihre Sinne; sie musste sich anstrengen, um subtilere Nuancen zu entdecken. Junge Frau. Wäschestärke und Unschuld.
Maricara schloss die Augen und hob wieder das Kinn. Für einen Augenblick erhaschte sie etwas Neues … einen Hauch von etwas, das ihr zugleich verwirrend wie auch bekannt erschien … von einer Person? Einem Stein? Es wusch in dünnen, gespenstischen Tönen über sie hinweg, ein Stachel in ihrer Erinnerung. Als sie den Kopf drehte, um es besser zu hören, verschwand es so schnell, wie es gekommen war. Sie gab sich alle erdenkliche Mühe, aber es gelang ihr nicht wieder, es zu erfassen.
Sie spürte nichts von dem Mädchen, das dieses sittsame Tuch getragen hatte. Entweder hatte Honor es fertig gebracht, sich so vollständig zu verbergen,
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