Der träumende Kameltreiber (German Edition)
aus.’
Ich hatte schon Angst, dass er nun meine Lebensgeschichte in dieser Wirtschaft preisgeben würde. Dann fuhr er fort:
‚Ruedi dort ist Bauer, er hat seine Kühe so schlecht behandelt, dass die Polizei ihm den Beruf verboten hat. Jetzt muss er in einer Milchfabrik arbeiten. Gewissenloser, schlechter Mensch. Auch Tiere sind Wesen, die man respektieren muss. Der Dicke dort, am runden Tisch, ist der Sohn des Pfarrers. Sein Vater hat vor Kurzem gestanden, homosexuell zu sein. Die Mutter hat man seither nicht mehr gesehen. Sie versteckt sich im Haus und geht nur mit einer Sonnenbrille einkaufen. Ich kenne sie alle und weiß alles über sie. Sie halten mich für einen Dieb und Taugenichts, die Idioten. Ich arbeite täglich und habe mich noch nie zu einem Bier einladen lassen, von keinem von ihnen.’
Nach einem Schluck aus seinem riesigen Glas fuhr er fort:
‚Siehst du die vier dort, die am Stammtisch Karten spielen? Pensionierte. Sie kommen jeden Morgen um neun hierher, gehen dann um zwölf mittagessen, machen ein Nickerchen und kommen um drei wieder hierher, um Karten zu spielen bis es Zeit ist zum Nachtessen. Nach dem Nachtessen kommen sie wieder hierher. Dieses Restaurant ist ihr Wohnzimmer geworden. Vielleicht haben sie alle unausstehliche Frauen zu Hause. Einer von ihnen, der mit den weißen Haaren, war Bankangestellter und saß einige Monate im Gefängnis, weil er irgendwas angestellt hatte. Man hat das Geld bei ihm nie gefunden, darum behauptet er, er sei unschuldig bestraft worden, aber sieh dir seine Augen an, er lügt, Mann, er hat das Geld gestohlen, gut versteckt und lebt jetzt davon. Er ist der Einzige dieser Viererbande, der regelmäßig in die Ferien geht. Und er behauptet, er habe nur eine gute Pension …’
Die Geschichten und Beschuldigungen dieses Jungen, der etwa mein Alter hatte, waren erstaunlich. Trotzdem schienen sie wahr zu sein, denn niemand protestierte, als er wieder laut in den Saal rief:
‚Na, ihr Spießer, das tägliche Kartenspielen hält euch eure Weiber vom Hals, was?’
Und wieder sagte der grimmige Wirt: ‚Charly, halt die Klappe!’
Ich nutzte die Gelegenheit, als dieser Typ schwieg, um zu fragen, wie denn seine Geschichte sei.
‚Was geht dich meine Geschichte an?’, fauchte er mich an. ‚Ich bin der König der Welt, verstehst du? Ich fürchte niemanden und alle fürchten mich. Ich bin auch dein König!’
Ich beugte mich zu ihm und sagte leise:
‚Irrtum, mein Freund, der Platz des Königs ist schon vergeben. Wenn du willst, mache ich dich zum Prinzen. Aber im Moment sitze ich auf dem Thron.’
Dann lehnte ich mich langsam zurück. Er schaute mich warnend, herausfordernd an, dann senkte er den Kopf und fing an zu erzählen:
‚Mein Vater hat sich von einer Autobahnbrücke gestürzt, als ich sechzehn Jahre alt war, weil meine Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt ist. Das war vor zehn Jahren. Seither kann ich keine einzige Nacht durchschlafen. Ich betrinke mich täglich, weil ich dann vergessen kann, bis so ein Idiot wie du mich danach fragt.’
Er hatte Tränen in den Augen, aus dem königlichen Haudegen wurde ein jämmerliches Kind, das am liebsten jemandem in die Arme kriechen und laut heulen würde.
Dann, wie um von sich abzulenken, fuhr er mit seinen Verleumdungen fort:
‚Der Typ dort hinten, der an seinem Bier nippt, ist ein ganz Schlimmer. Vor ihm habe sogar ich Respekt. Er soll seine Frau spitalreif geschlagen haben. Wegen einer Lappalie, irgendwas wie ‚das Essen ist zu salzig’ oder so ein Mist. Jedenfalls hat er sich selber der Polizei gestellt. Vier Bullen mussten ihn festhalten, als er vom Richter das Urteil hörte, er hätte ihn erwürgt, wenn die Polizisten ihn nicht überwältigt hätten.’
Langsam tat mir dieser Junge leid. So also, dachte ich, sind ihre Derwische. Sie unterstellen allen anderen die schlimmsten Dinge, während sie sich selber für Könige der Welt halten. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob dieser Junge überhaupt ein einziges wahres Wort sagte. Vielleicht schwärzte er die anderen an, weil seine Kindheit, sein Leben verpfuscht wurde. Ich schaute in die Runde, die Menschen hier konnten doch nicht alle so schlecht sein. Ich machte dem Wirt ein Zeichen, dass ich bezahlen wollte. Da hielt mich der Junge am Arm fest und sagte, ich sollte bleiben, er habe mir noch nicht erlaubt, mich zu entfernen.
‚Ich will deine Geschichte hören’, sagte er. Ich tat ihm den Gefallen und erzählte ihm, dass ich ein
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