Der Trafikant / ebook (German Edition)
als hätte Anezka ihm das Herz aus der Brust gerissen und trüge es nun mit sich herum. Das, was da immer noch schlug in seiner Brust, war nur mehr die Erinnerung an etwas, das doch längst bei ihr war: in ihrer offenen Hand, in ihrer Schürzentasche, zwischen die Streben ihres Bettgestells gequetscht, pochend und heiß vor ihr auf dem Küchentisch.
Und dann geschah es doch. Ein paar qualvolle Wochen nach dem ersten Beben in der Trafik wurde Franz mitten in der Nacht von einem leisen Klopfen aus dem Halbschlaf gerissen. Draußen stand Anezka im kurzen Mantel und fror. Sie sagte nichts. Wortlos ging sie an ihm vorbei und legte sich ins Bett. Das Ausziehen überließ sie ihm. Seine Hände zitterten so stark, dass er eine Ewigkeit brauchte. Nur langsam entblößte sich ihr Körper, bis sie schließlich vor ihm lag, nackt und weich und rund im milchigen Schein des Mondlichts. Nachdem es geschehen war und er wie ein Häuflein Glück auf dem Rücken neben ihr lag, stellte er sich vor, wie er am nächsten Morgen, gleich nach dem Aufstehen, um ihre Hand anhalten würde. Aber als er aufwachte, war sie weg.
Franz beschloss, nun dem zweiten Lösungsvorschlag des Professors nachzugehen und Anezka zu vergessen. Er bemühte sich sehr, doch als nach über drei Wochen immer noch die Abdrücke ihrer kleinen Hände auf seinem Hintern glühten und zwischen jeder zweiten Zeitungszeile geisterhaft ihr Name aufleuchtete und sich schließlich beim Aufwischen der vom Dackel des Kommerzialrates Ruskovetz verlorenen Tropfen aus der Dielenmaserung ganz deutlich zuerst die Konturen ihrer Oberlippenwölbung, dann die ihres Gesichts und zuletzt die ihres Körpers herauslösten, gab er die Sache mit dem Vergessen wieder auf, schmiss stattdessen den Reibefetzen in eine Ecke und stellte sich breitbeinig und mit entschlossen in die Seiten gestemmten Armen vor Otto Trsnjek hin. Es tue ihm leid, sagte er mit kräftig erhobener Stimme, aber es sei einfach nicht mehr auszuhalten. Jetzt gleich, sofort und auf der Stelle müsse er zu einem Doktor, und zwar betreffs seines vom stundenlangen Sitzen auf dem Hocker morsch gewordenen und insgesamt ziemlich schmerzhaft verzogenen Rückgrats. Der Trafikant schraubte seine Füllfeder zu, steckte sie sorgfältig in sein über die Jahre ein bisschen speckig gewordenes Lederetui, beugte sich über das soeben mit einer Reihe dringend benötigten Bestellungen vollgeschriebene Blatt Papier, blies sachte die Tintenschrift trocken, blickte dann über den Brillenrand hinweg auf seinen immer noch unverändert breitbeinig vor ihm platzierten Lehrling und entließ ihn für den Rest des Tages mit den von einem schweren Seufzer angeschobenen Worten: »Na dann schleichst dich jetzt halt meinetwegen!«
Franz ging natürlich nicht zum Arzt, sondern direkt zum gelben Haus in der Rotensterngasse, wo er sich hinter einem der beiden Schutthaufen auf einen niedrigen Stapel bröckliger Ziegel setzte und wartete. Den ganzen Nachmittag über passierte nichts. Zwar gingen ständig Frauen ein und aus, Anezka aber war nicht darunter. Die Stunden vergingen, kurz wanderten ein paar Sonnenstrahlen über den Schutt, es tröpfelte ein bisschen, danach wurde es kühl, und die Abenddunkelheit brach herein. Franz spürte, wie die Feuchtigkeit aus den Ziegeln langsam durch seine Hose hinaufsickerte, und schimpfte still in sich hinein. Wie hatte er nur auf die hirnrissige Idee kommen können, irgendeinem steinalten, fast gewichtslosen und obendrein nach Sägespänen riechenden Professor zuzuhören und sich auf so eine Blödsinnigkeit wie die Liebe einzulassen? Als etwas später der Gasmann kam und die drei letzten noch funktionierenden Laternen in der Straße anzündete, gab er schließlich auf. Mit einem schmatzenden Geräusch hob er seinen feuchten Hintern vom Ziegelstapel, um den Rückzug zur Trafik anzutreten. In genau diesem Moment kam sie aus dem Haus. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und ging mit kleinen, schnellen Schritten in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter. Franz kam hinter dem Schutthaufen hervor und folgte ihr in gehörigem Abstand. Genau wie in dem amerikanischen Kriminalfilm mit den zahlreichen gnadenlos-grimmig respektive sehnsuchtsvoll-träumerisch vor sich hinschauenden Männern, den er vor Jahren gemeinsam mit der Mutter während einer gutbesuchten Lichtspielvorführung in St. Georgen gesehen hatte, versuchte er die städtischen Unübersichtlichkeiten für seine Deckung zu
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