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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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verteilt, nur wenige davon waren besetzt – soweit Franz erkennen konnte, ausschließlich von einzelnen Männern. Das Kerzenlicht beflackerte einen behaarten Nacken, eine faltige Stirn, eine Arbeiterhand, an deren Rücken trockener Lehm klebte, den abgewetzten Kragen am Sakko eines alten Mannes.
    Franz setzte sich an einen freien Tisch, das Mädchen kam und er bestellte ein Krügel Helles. Sie brachte das Bier, stellte wortlos auch noch eine Schale mit Nüssen vor ihn hin und verschwand wieder hinter dem Tresen. Einige Minuten verstrichen, dann ging plötzlich ein Scheinwerfer an und beleuchtete eine winzige Bretterbühne am anderen Ende des Raumes. Eine Tür öffnete sich und ein kleiner Mann im Smoking trat ins Licht. Er war dürr und runzlig, aber trotz seines Alters voller sprühender Energie. Er verbeugte sich mit einem Lächeln, kippte gleich darauf einfach nach vorne, vollführte einen halsbrecherischen Purzelbaum, stand im nächsten Moment wieder kerzengerade da und begann zu reden. Von den Zuständen in der lieben Wienerstadt sprach er, von diesem riesengroßen Kindergarten, in dem sich der Schuschnigg-Bub und seine Spielkameraden so gerne austoben würden, aber schon längst nicht mehr dürften; von den kleinen Nazis, die sich im Sandkasten so gerne mit den kleinen Sozis prügelten, und von den kleinen Katholiken, die still daneben stünden, in ihre Windeln schissen und nachher den großdeutschen Kindergartentanten alles beichteten. Er sprach schnell, in einem rasenden Stakkato und scheinbar ohne Luft zu holen, verlor dabei aber nie sein Lächeln. Mit einem Mal ging ein Ruck durch seinen Körper, und er fiel auf die Knie. Mit theatralischer Langsamkeit legte er seine Handflächen aneinander, blickte ins Scheinwerferlicht hinauf und begann zu beten:
    »Lieber Gott, mach mich stumm,
    dass ich nicht nach Dachau kumm.
    Lieber Gott, mach mich taub,
    dass ich an unsre Zukunft glaub.
    Lieber Gott, mach mich blind,
    dass ich alles herrlich find:
    Bin ich erst taub und stumm und blind,
    bin ich Adolfs liebstes Kind …«
    Die Männer lachten, einige klatschten, jemand winkte nach der Kellnerin, jemand rief ihr ein paar gut gemeinte Frechheiten hinterher. Auch Franz lachte. Obwohl er sich insgeheim nicht sicher war, wirklich alles genau verstanden zu haben. Aber es war eben auch so komisch, wie dieser kleine Mann dort vorne auf den Brettern kniete und voller Demut zur Decke schaute. Genau wie die alten Krähenweiber mit ihren schwarzen Kopftüchern und Rosenkränzen und Gebetsbüchern vor dem Nußdorfer Kapellenaltar, dachte Franz und steckte sich drei Nüsse in den Mund. Auf der Bühne ging es schon wieder weiter.
    Der Mann katapultierte sich in den Stand zurück, wandte sich ab und werkelte mit schnellen Bewegungen in seinem Gesicht herum. Als er sich wieder umdrehte, ging ein Raunen durchs Publikum. Im staubflirrenden Scheinwerferkegel stand Adolf Hitler. Ein paar Striche durch die Haare, ein bisschen Kohle an den Augen und ein angeklebtes Rechteck an der Oberlippe hatten genügt, einen Mann im Smoking in den deutschen Reichskanzler zu verwandeln. Hitlers Augen glänzten wie die dunklen Muscheln, die Franz so oft von den Schilfrohren gepflückt hatte, um sie dann aufzuknacken und an die Katzen zu verfüttern oder den Mädchen in ihre Haare zu schmieren. Mit einem Knall schlug er die Hacken zusammen, riss seinen Arm zum Gruß empor und reckte das Kinn nach vorne. Franz musste an den Professor denken, dessen Kinn dem Rest seines Körpers immer ein wenig voraus zu sein schien. Komisch, dachte er, aber vielleicht hatte er da gerade eine kleine Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden sonst eigentlich recht unterschiedlichen Männern entdeckt. Hitler erbat sich mit einer gebieterischen Geste Ruhe im Publikum und begann eine Rede zu halten. Es ging um die Dummheit des Orients und den mutig dagegengehaltenen Widerstandswillen der arischen Rasse, um die Rettung Österreichs vor der Bosheit des Balkans, um die Rettung Europas vor der Gefräßigkeit des Bolschewismus, um die Rettung der Welt vor der nimmersatten Gier des internationalen Judentums und so weiter. Das alles hatte Schwung und klang außerdem auch noch irgendwie vernünftig. Doch mit der Zeit fing er an, sich immer mehr in Rage zu reden, und bald verwandelte sich der anfangs noch verständliche Redeschwall in ein unartikuliertes und abgehacktes Gebrüll. Der Reichskanzler keifte und geiferte, dass die Spucketröpfchen nur so flogen. Er zog seinen Kopf zwischen

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