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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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nützen: Er drückte sich in Hauseingänge, sprang hinter eine Litfaßsäule, wechselte die Straßenseite, lief ein Stückchen neben einem mit dampfendem Teer beladenen Dieselwagen einher und versteckte sich hinter dem breiten Rücken eines Kanalräumers, der in seinen schweren Schaftstiefeln müde heimwärts stapfte. Anezka überquerte die Weintraubengasse, gelangte auf die Praterstraße und bewegte sich sicher und schnell durch den dichten Verkehr auf das Riesenrad zu. Hinter dem Großen Autodrom bog sie plötzlich rechts ab und verschwand in einem dunklen Seitengässchen. Franz wartete einige Sekunden und bog dann ebenfalls ein. Der Weg war schmal und auf beiden Seiten von einem Zaun begrenzt, dessen Bretter ungewöhnlich hoch ragten und oben nur einen Streifen des sternenlosen Nachthimmels freigaben. Nach etwa zwanzig Schritten öffnete sich der Durchgang zu einem von schmutzigen Mauern umgebenen Hinterhof. In einer Ecke standen ein paar Mülltonnen zusammengerottet wie schlafende Kühe. An einem nackten Draht baumelte eine Glühbirne und verstreute ihr schmutziggelbes Licht. Aus den Augenwinkeln bemerkte Franz eine Bewegung im Halbdunkel einer Mauernische, lautlos und weich, wie ein träges Winken. Es war die Falte eines Vorhanges, der sich im Luftzug bewegte. Darüber klebte ein Plakat: ZUR GROTTE stand darauf in mattgoldenen Lettern. Darunter, kaum noch zu erkennen: TRETEN SIE NÄHER! TRETEN SIE EIN! GEHEIMNIS, LUST UND FREUDE – ALLEINE ODER ZU ZWEI’N! (EINTRITT EINEN SCHILLING)
    Franz schob den Vorhang zur Seite und ging hinein. Der Raum war winzig und komplett in dunkelgrünes Licht getaucht. Er musste an den See denken. An die Tauchgänge, die er als Bub so oft unternommen hatte. Unzählige Male war er an heißen Sommertagen nackt auf einem der nach Holz und Sonne duftenden Fischerstege gelegen und hatte so lange dem Rauschen des Schilfs und dem freundlichen Plätschern unter ihm zugehört, bis es nicht mehr auszuhalten war und er sich kopfüber oder mit angezogenen Beinen ins Wasser schmeißen musste. Im Gewirbel seiner eigenen Luftblasen ließ er sich langsam sinken, und um ihn herum wurde es immer stiller und dunkler. Die Stegpfähle waren dicht von Algen und Muscheln besiedelt, dahinter ragten die Schilfrohre in die Höhe. Hin und wieder schaute aus dem Dickicht ein Fisch heraus, eine Schleie meistens oder ein Saibling. Manchmal ließ sich sogar ein Perlfisch blicken, stand für ein paar Sekunden reglos im Wasser, bevor er mit einem einzigen Flossenschlag wieder in der Dunkelheit verschwand. Der kleine Franz saß ruhig am Grund und hörte dem See zu: Er hörte das Rauschen der tiefen Wasserbewegungen, das Gluckern der Oberflächenwellen, hie und da ein Knistern im Schilf und manchmal, aus weiter Entfernung, das dunkle Stampfen der Fährschiffe. Er spürte die weiche Algenwiese unterm Hintern und sah, wie über ihm die winzigen Schwebeteilchen in den Sonnenstrahlen flirrten. Noch Stunden später, wenn er über den Uferweg nach Hause rannte und ihm die Abendsonne ins Gesicht schien, trug er diese stille, grüne Welt als kleine Sehnsucht mit sich.
    »Wennst Wurzeln schlagen willst, machst das besser draußen!«
    Es war eine alte Stimme, brüchig und hell. Direkt vor Franz, ungefähr in Brusthöhe, erschien der dazugehörige Kopf. Er war völlig kahl, und auch die Augenbrauen fehlten, was ihm unter der grünen Beleuchtung etwas Eidechsenhaftes verlieh.
    »Einen Schilling, wennst dir das Programm anschauen willst. Wenn nicht: Der Ausgang ist da, wo grad noch der Eingang war!«
    Erst jetzt erkannte Franz den Kassenverschlag: eine kleine, rechteckige Öffnung in der Wand. Im Halbdunkel dahinter saß die Echse und starrte zu ihm heraus.
    »Einmal Programm, bitte!«, sagte Franz und legte einen Schilling auf das Kassenbrettchen. Die Echse nahm das Geld und hielt ihm eine Eintrittskarte entgegen: »Freie Platzwahl, keine Pause, viel Vergnügen!«
    Eine unaufällige Tapetentür öffnete sich, und Franz ging hindurch. Der Raum dahinter war viel größer, als er erwartet hatte, und vollkommen rot. Die Decke, die Lampenschirme, der abgetretene Teppich, die Tapeten, alles war in ein weiches Dunkelrot getaucht, das im Schattenspiel von unzähligen Kerzen flackerte. Hinter einem verspiegelten Tresen hantierte ein Mädchen mit Flaschen und Gläsern. Sie war höchstens sechzehn Jahre alt, hatte eine fingerlange Narbe an der rechten Wange und die platte Nase eines Boxers. Etwa zwanzig runde Tischchen standen im Raum

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