Der transparente Mann (German Edition)
verwirrt«, improvisierte Joe. »Was hatten Sie denn ausgemacht?«
Stefanie Weiss klärte sie auf, dass sie sich um sieben Uhr am »Haus der Kunst« hatten treffen wollen, um dann später, wahrscheinlich im »Piccoli«, essen zu gehen.
Das war der Dolchstoß ins Herz. Das »Piccoli« war ihr Lokal! An jedem ihrer Monatstage speiste sie hier fürstlich in Erinnerung an ihren ersten Abend. In diesem Lokal hatte er zum ersten Mal ihre Hand gestreichelt. In diesem Lokal hatte Konstantin von Rom erzählt, wohin sie in zwei Wochen, zu ihrem siebten Monatstag, tatsächlich fliegen wollten. In diesem Lokal hatte er ihr das Buch Let'stalkaboutlove geschenkt, in das Joe jetzt immer etwas hineinschrieb, wenn sie dazu das Bedürfnis verspürte. Sie hatte Konstantin nämlich versprochen, ihm an ihrem ersten Jahrestag ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Jetzt war sie froh, dass ihre Antworten sicher verwahrt auf ihrem Nachttisch lagen.
»Ja, was für einen neuen Termin schlägt Konstantin, ich meine, Herr Wastian denn vor?« Die Frage dieser Stefanie riss Joe aus ihren Gedanken.
»Ach so … Nein, ich glaube, es ist meine Schuld«, sagte Joe schnell. »Ich habe da was verwechselt und gerade den Eintrag in seinem Terminkalender gefunden. Tut mir leid.«
»Kein Problem.«
Joe fühlte Stefanies Strahlen durchs Telefon.
»Einen schönen Tag noch.«
»Das wünsche ich Ihnen auch.« Joe hoffte jedoch, dass diese Stefanie auf gar keinen Fall eine schöne Nacht erleben würde.
Auf dem Marienplatz, mitten im Herzen von München, herrschte ein reges Geschiebe und Gedränge. Es war kurz vor fünf, als Joe mit der Rolltreppe aus dem U-Bahn-Schacht nach oben fuhr. Horden von Japanern blockierten mit ihren Fotoapparaten und Videokameras den Ausgang zum Platz. Sie alle wollten das Glockenspiel im hohen Turm des neugotischen Rathauses auf ihre Speicherkarten bannen. Wenige Minuten später, Punkt fünf, ertönte die Harmonie der dreiundvierzig Glocken. Mit gravitätischen Bewegungen begleiteten die über dreißig lebensgroßen Figuren die Klänge, indem sie ihre Runde im Glockenturm tanzten.
Joe interessierte das Glockenspiel an diesem Tag überhaupt nicht. Genervt ob dieser Menschenmassen, kämpfte sie sich zielsicher zwischen dahinwandelnden Touristen und mit Einkaufstüten bepackten Hektikern hindurch. Dabei ließ sie ihren Blick suchend umherschweifen, bis sie Alf endlich entdeckt hatte. Er stand auf einem kleinen Podest direkt vor dem eisernen Brunnen mit seinen Wasser speienden Löwenköpfen. Es war sein Lieblingsplatz, denn an diesem markanten Punkt verabredeten sich Fremde und Freunde. Den meisten, die auf der Umrandung des Brunnens saßen, war das Warten ins Gesicht geschrieben, und es war für diese Menschen eine willkommene Abwechslung, die silberne, meist reglos dastehende Gestalt mit dem Clownsgesicht zu beobachten. Ein Punker drehte sich dabei gerade eine Zigarette und gab dem Clown ein Zeichen, dass er ihn cool fand. Ein kleines Mädchen warf eine Münze in den Hut. Es juchzte, als der Clown sich mit Stakkato-Bewegungen vor ihm verneigte.
Joe ging langsam auf Alf zu und stellte sich an seine Seite. »Es ist ein Notfall!«, raunte sie ihm zu. »Bitte. Komm da runter.«
Unnatürlich, wie eine Puppe, stieg Alf von seinem Podest. Sein Zeigerfinger tippte auf ihre Nase, sein Mund formte ein lautloses Wort, seine Mimik sprach von Erstaunen, und die Menschen, die vorher das Glockenspiel bestaunt hatten, fotografierten jetzt Joe und den Clown.
»Hör auf. Wir müssen weg«, zischte Joe leise, während sie ihre Rolle als kreativ involvierte Zuschauerin weiterspielte. Dann verbeugte sich Alf endlich vor ihr und dem Publikum. Nachdem der Beifall abgeebbt war und sich noch etliche Münzen in seinem Hut gesammelt hatten, wurde die silberne Puppe wieder zu einem menschlichen Wesen.
»Was hast du vor. 7 «, fragte Alf.
»Ich muss ein Clown sein.«
Ein Blick in Joes Gesicht reichte. Alf begriff sofort.
Im Clownskostüm kam Joe sich idiotisch vor. Ihr Gesicht war so silbern wie ihr hautenger Anzug. Ihre Haare lagen wie gelackt am Kopf, auf dem ein spitzer silberner Hut thronte. Ihre Lippen waren weiß und so theatralisch geschwungen wie auch ihre Augenbrauen. In den silbernen Stiefeln konnte Joe nur vorsichtig und ganz langsam laufen. Da sie Alf gehörten, waren sie drei Nummern zu groß.
Innerlich höchst angespannt, fuhr Joe mit Alfs klapprigem Polo zum Haus der Kunst. Wann immer sie an einer Ampel halten musste, zeigten die Menschen
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