Der transparente Mann (German Edition)
Er stellte sich als Thomas Mirnoff, Besitzer dieses Geschäftes, vor. »Herr Wastian hat die Galerie in der Nähe vom ›Bayerischen Hof‹.«
»Ja.« Joe konnte ihre Ungeduld kaum verbergen.
Thomas Mirnoff nickte, lächelte ihr zu und studierte konzentriert die vielen Eintragungen in seinem großen Bestellbuch. »Wunderbar, diese Fotografien. Herr Wastian hat die Seele eines Künstlers.« Dann entdeckte er, dass ihm tatsächlich ein Lieferfehler unterlaufen war. »Es tut mir wirklich leid«, erklärte er bedauernd.
»Ist schon okay. Wir hatten uns nur gewundert.« Joe lächelte kurz. »Kennen Sie sich gut?«
»Nein«, antwortete der Florist. »Aber Blumen verraten nicht nur eine Menge über den Menschen, der sie bekommt, sondern auch über den, der sie bestellt.«
»Das erledigt wohl eher seine Sekretärin«, murmelte Joe. Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Dabei wusste sie nicht einmal, was sie hier suchte. Mindestens zehn Minuten hatte sie in ihrem Kastenwagen vor diesem Blumenladen gesessen, zu dem sie ihr Auto in der Mittagspause wie von Geisterhand chauffiert hatte. Hin und her hatte sie überlegt, ob sie hineingehen sollte. Aber dieser Dorn steckte noch tief in ihrem Herzen, und sie musste herausfinden, warum. Zwar hatte sie einen perfekten Abend und eine ebenso perfekte Nacht mit Konstantin verbracht, aber als er sie am Morgen wie üblich mit einem zärtlichen Kuss verabschiedet hatte, hatten sich erst ihr Bauch und dann ihr Kopf mit plötzlichem Misstrauen gemeldet: Warum gab er ihr nicht endlich einen eigenen Haustürschlüssel? Warum behauptete er, erst einen Schlüssel anfertigen lassen zu müssen, wo sie doch wusste, dass sein Zweitschlüssel in einer Kommode lag?
Nervös strich Joe sich durchs Haar, als könnte sie so die störenden Gedanken vertreiben. Sie hasste es, Konstantin zu misstrauen. Der Blumenverkäufer klappte das Buch zu, und Joe zuckte zusammen.
»Also nochmals sorry. Es war mein Fehler. Eine Verwechslung. An Ihrem Geburtstag bekommen Sie selbstverständlich noch mal rote Rosen. Natürlich auf Kosten des Hauses.« Er lächelte, aber da war etwas in seinem Blick, das Joe irritierte.
»Ist nicht weiter schlimm. Ich wollte das nur klären. Hätte ja sein können, dass jemand anderes einen Rosenstrauß vermisst.« Joe bemühte sich, beiläufig zu klingen.
Statt einer Erwiderung sah der Florist sie nur freundlich an.
Nochmals schaute Joe sich im Laden um. »Das ist wirklich ein außergewöhnlich schönes Blumengeschäft.« Ihr Blick fiel auf eine Glasvase mit verschiedenen Lilien. Spontan zeigte sie darauf. »Können Sie mir einen Strauß daraus binden?«
Der Florist deutete auf einen Stiel mit orangebraunen Blüten: »Das ist eine Tigerlilie, die Liliumtigrinum. Und hier, diese perfekte Schönheit mit den weißen Blüten, ist die Liliumcandidum. Welche spricht Sie an?«
»Die weiße.«
Fast zärtlich griff er einen Blütenstiel aus der Vase. »Sie ist ein Symbol der Reinheit. Wie viele darf ich für Sie binden?«
»Alle.« Joe versuchte ihr schlechtes Gewissen mit einem souveränen Lächeln zu überspielen. Den Bruchteil einer Sekunde spürte sie seinen Blick auf sich und ihrer blauen Latzhose ruhen. Wie immer ragte der Zollstock aus ihrer Hosentasche. An ihren Sohlen klebte der Schmutz der Baustelle, der auch Spuren auf dem blanken Marmor hinterlassen hatte. Joe sah, dass eine Lilie fast drei Euro kostete.
»Sehr gern«, meinte er, als wäre an ihrem Wunsch nichts Ungewöhnliches. Mit gleich bleibender Vorsicht zog er fünfzehn Lilien aus der großen Vase und verschwand im angrenzenden Zimmer, um sie kunstvoll zu binden.
Joes Puls raste. Hastig griff sie nach dem Bestellbuch, versteckte es unter dem Latz ihrer Hose. Dann stürzte sie hinaus zu ihrem Auto. Sie gab Gas, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Joe wünschte sich tausendmal, sie hätte das Bestellbuch nicht gestohlen. Jetzt war alles zerstört. Unglücklich hockte sie auf dem kalten Betonboden des Dachgeschosses im Rohbau, weil dies der einzige Ort war, an dem sie unbehelligt nachdenken konnte. Noch immer lag das schwarze Bestellbuch aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Joe starrte ins Nichts. Sie kämpfte mit den Tränen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und wie ihre Stimmung war auch das Wetter umgeschlagen. Graue Wolken zogen auf und kündigten Regen an.
Das Buch hatte ihr sein Geheimnis verraten. Konstantin schenkte vielen Frauen Blumen. Jetzt war Joe sonnenklar, warum er seine
Weitere Kostenlose Bücher