Der transparente Mann (German Edition)
sie preisgeben wollte. Doch wie immer reagierte er äußerst sensibel, fragte nicht nach und bohrte nicht in der Wunde. Stattdessen nahm er Joe einfach in den Arm. Sie schwiegen, bis der Gedanke an ihren Vater Joe in neue Panik versetzte.
»Ach, wenn er mich nur nicht rausschmeißt! Ich hätte gestern um sechs Uhr im Büro sein sollen.«
Alf schüttelte den Kopf. »Er braucht dich.« Und als er ihren zweifelnden Blick sah, fügte er noch hinzu: »Du bist viel besser, als du denkst.«
Das klang zwar schön, war auch nett gemeint, aber es konnte Joes Befürchtungen nicht zerstreuen.
Um sie von ihren Gedanken abzulenken, erzählte Alf vom Wirbel, den der Artikel über ihre Person verursachte hatte. Drei Yellow-Press-Magazine hatten telefonisch um ein Interview ersucht und Alf so lange mit indiskreten Fragen genervt, bis er kurzerhand das Telefon ausgehängt hatte. Während sie auf Joes Bett saßen, einen heißen Verbenen-Tee schlürften und der volle Mond die Häuser in ein silbernes Licht tauchte, erzählte Alf von einer pummeligen, lockenköpfigen Frau, die tatsächlich die Dreistigkeit besessen hatte, an der Wohnungstür zu läuten. Sie hatte sich als Monika vorgestellt und als eine Freundin von Joe ausgegeben. Alf besaß aber nicht nur eine untrügliche Menschenkenntnis, er war dank Joes Mitteilungsbedürfnis so gut informiert, dass er hinter der freundlichen Fassade sofort die Journalistin Monika Treschniewski entlarvt hatte. Freundlich, aber bestimmt hatte er sie abgewiesen.
Wie besonnen Alf war!, dachte Joe voller Bewunderung. Im Gegensatz zu ihr bewahrte er selbst im größten Durcheinander immer einen kühlen Kopf und war in der Lage, die jeweilige Situation emotionslos zu analysieren. Die Erwähnung dieser skrupellosen Journalistin weckte aber erneut Joes Zorn, und sie erinnerte sich an ihre eigene Naivität, mit der sie Monika in die Falle gegangen war. »Vor lauter Hunger nach einer guten Story würde die Treschniewski ihre eigene Großmutter zerreißen«, empörte sich Joe.
Danach redeten sie noch so lange über das letzte dunkle Kapitel ihres Lebens, bis Joe alles nicht mehr so düster erschien und der erlösende Schlaf sie übermannte.
Kein Wunder! Alf hatte ihr kurzerhand drei Beruhigungstabletten aus der Kava-Kava-Pflanze verabreicht, um Joe für die Ereignisse des nächsten Tages zu wappnen.
Es war bereits sieben Uhr, als Joe in ihrem Bett die Augen aufschlug. Obwohl sie nur drei Stunden geschlafen hatte, war sie mit einem Schlag hellwach, denn sie wusste, es galt keine Zeit mehr zu verlieren, um sich dem Leben zu stellen.
Als Erstes musste sie ins Büro, um das Unheil, das ihr von ihrem Vater drohte, schleunigst zu begrenzen. Zweimal hatte er ihr am Vortag auf die Mailbox gesprochen, das erste Mal bereits um achtzehn Uhr vier, als er zornig nachgefragt hatte, wo sie denn bliebe. Das war mal wieder typisch für ihn!, dachte Joe ärgerlich, er gestattete ihr nicht einmal eine fünfminütige Verspätung! Sein zweiter Anruf, zwei Stunden später, war kurz, aber deutlich gewesen. Er endete mit der Drohung, dass sie sich weder in der Firma noch auf der Baustelle mehr blicken lassen sollte. Beim Gedanken an seine harten Worte schluckte Joe gleich noch drei Kava-Kava-Pillen. Alf hatte ihr versichert, dieses rein pflanzliche Mittel sei hochwirksam gegen Lampenfieber und Aufregungen aller Art.
Rasch zog sie sich an und raste dann höchst alarmiert zur Firma. Während der Fahrt beschwor sie sich, all ihr diplomatisches Geschick einzusetzen, um zu retten, was noch zu retten war. Inständig beschwor sie sich, cool zu bleiben und nicht, wie üblich, aufzubrausen. Doch Diplomatie war noch nie ihre Stärke gewesen.
Es war sieben Uhr dreißig, als sie die breiten Stufen zur Eingangstür hinaufeilte. Joe war erstaunt, denn die Tür war noch verschlossen, was nur bedeuten konnte, dass das Büro noch nicht besetzt war. Seltsam, dachte sie, zu dieser Zeit hockten Vater und Mutter normalerweise längst hinter ihren Schreibtischen! Joe spürte ein unangenehmes Ziehen in der Brust und wusste, dass die Abkehr ihrer Eltern von üblichen Gewohnheiten kein gutes Zeichen sein konnte.
Einen Moment lang stand sie unschlüssig vor dem Büro, dann ging sie zur benachbarten Wohnung ihrer Eltern, drückte wie immer kurz auf die Klingel, bevor sie die Wohnungstür mit ihrem Schlüssel öffnete und entschlossen eintrat.
Der verführerische Geruch von frischem Kaffee und getoastetem Brot stieg ihr in die Nase. Sofort
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