Der transparente Mann (German Edition)
noch ganz beflügelte Seele. Noch traute sie sich nicht, die Augen zu öffnen. Aus unscharfen Fragmenten setzten sich die Bilder der letzten Nacht immer klarer zusammen und ließen das wohlig warme Gefühl in ihrem Körper zunehmend erkalten. Oh nein, dachte sie. Bitte, lieber Gott, mach, dass es nicht wahr ist! Es darf einfach nicht sein! Sie hielt die Augen weiterhin fest geschlossen, wollte nichts sehen, doch irgendwann, das wusste sie, musste sie sich den Tatsachen der vergangenen Nacht stellen. Aber nicht so schnell …
Nachdem sie noch einige Zeit einfach so dagelegen und in ihrer Unsicherheit verharrt hatte, fasste sie sich ein Herz, rieb sich die Augen – auch um eventuelle Mascara-Spuren zu entfernen – und schielte vorsichtig zur Seite. Marc schlief tief und fest, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Joe war erleichtert. Besser keine Konfrontation, überlegte sie. Marc hatte ihre schwache Stunde ja ganz schön ausgenutzt, dachte sie dann, um sich selbst zu entschuldigen. Und dabei war er so schamlos vorgegangen, dass ihr die Erinnerung an seine erotischen Künste sofort wieder eine Hitze in den Körper trieb, die sie erröten ließ. Um Marc nicht zu wecken, stieg Joe vorsichtig aus dem Bett, huschte barfuß über den kalten Boden ins Bad, sammelte dort lautlos ihre Klamotten ein und ärgerte sich erneut über ihre Schlamperei, was ihre Unterwäsche betraf. Danach schlich sie, nur notdürftig bekleidet, wie ein Dieb aus der Wohnung. Mit viel Feingefühl zog sie die Tür hinter sich zu.
Erst im Treppenhaus, als sie sich bereits eine Etage tiefer befand, fühlte sie sich sicher genug, um sich vollständig anzuziehen. Sie stellte ihr Handy an, rief ein Taxi und verließ das Haus.
Der Himmel spannte sich über ihr wie ein Teppich aus funkelnden Sternen, und während sie in der kühlen Nachtluft wartete, überwand Joe die lähmenden Ängste und hörte dann doch ihre Mailbox ab. Die Nachrichten, die sie vorfand, wirkten wie eine eiskalte Dusche. Sie bestätigten ihr, dass das Chaos noch lange nicht vorbei war. Ganz im Gegenteil.
Wenig später saß Joe im Fond des Taxis, das sie zur Baustelle bringen würde, wo ihr Kastenwagen stand, und blickte in die Nacht hinaus. Die Straßen waren um diese Zeit menschenleer, und nur vereinzelt kündigten zwei abgeblendete Scheinwerfer ein Fahrzeug an, das ihnen auf der sonst so dicht befahrenen Leopoldstraße entgegenkam. Bis auf die Reinigungswagen, deren rotierende Bürsten das Gesicht der Stadt vor Sonnenaufgang polierten, war um diese Zeit jeder nur darauf erpicht, auf schnellstem Weg nach Hause und in sein Bett zu kommen. Joe aber war jetzt hellwach und absolut klar im Kopf. Sie konnte nicht glauben, was in dieser Nacht geschehen war: etwas, das niemals hätte geschehen dürfen! Denn Marc war erstens ein Freund und zweitens ein Mitarbeiter der väterlichen Firma. Beides waren für Joe absolute »K.-o.-Kriterien«. Schließlich predigte ihr Vater, solange sie denken konnte, dass Affären mit Angestellten der Firma grundsätzlich indiskutabel seien. Während sie so im Taxi kauerte und in die Dunkelheit starrte, fragte sie sich, ob wochenlange Enthaltsamkeit letztendlich darin mündete, den Verstand zu verlieren? Warum sonst hatte sie sich hinreißen lassen, ihre festgeschriebenen Grenzen zu überschreiten? Das war die einzige Erklärung, die Joe vor sich selbst gelten lassen konnte. Ja, die Hormone mussten schuld daran sein! Schließlich waren sie es, die den Zellen Informationen gaben, die das Gehirn dann als Kommando an den Körper weiterleitete. Ganz bestimmt wäre all das niemals passiert, hätte sie sich nicht in dieser schier ausweglosen, verzweifelten und seit Wochen ungeliebten Situation befunden!
Je länger Joe darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie sich. Bei ihr hatten einfach Endorphine, Dopamine und Adrenalin verrückt gespielt. Trotzdem, eines musste Joe dem Ganzen lassen, auch wenn sie sich das nur ungern eingestand: Die Nacht mit Marc war überraschend gut und wunderbar befriedigend gewesen.
Als Joe bei sich zu Hause vorfuhr, lugte sie vorsichtig aus dem Autofenster und warf einen prüfenden Blick auf die Straße. Sie wollte sicher sein, dass sich nicht einer der Paparazzi irgendwo hinter einem Baum oder in einem Wagen versteckte, um sie abzufangen. Aber alles wirkte ruhig.
Joe parkte ein und schaltete den Motor ab. Beim Aussteigen achtete sie auf jedes Geräusch, das von der Straße zu ihr herüberdrang. Dann hastete sie über die Straße
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